Berlinale 2020: Nackte Tiere

„Katja ist doch kein Mädchen“, sagt Sascha. Denn Schöller mag sich nicht mit Katja prügeln. Laila ist von all dem so genervt, dass sie die Wohnung verlässt. Und Benni ist sowieso verschwunden.

Nackte Tiere, das sind fünf Jugendliche auf dem Weg zum Abitur, schutzlos und doch einander schützend. Wie nackte Tiere kuscheln sie sich aneinander, um sich gegenseitig jene Wärme zu geben, die sie an anderer Stelle vermissen. Zuhause ist ein flexibler Begriff und definitiv eher an Menschen als an einen Ort gebunden. Die Person, durch deren Augen wir blicken und die uns in diesen Schutzraum mitnimmt, ist Katja (Marie Tragousti). Und obwohl Regisseurin Melanie Waelde ihren Fokus konsequent auf diese Hauptfigur legt, erfahren wir so gut wie nichts über sie.

Schöller, Laila und Katja mit Mützen und Schals warm eingepackt kuscheln sich aneinander.

© Czar Film

Überraschender Weise ist das jedoch vollkommen egal. Denn was müssen wir eigentlich über Katja wissen, um sie zu verstehen? Waelde gibt ihrem Publikum keine Erklärungen. Nicht wie die fünf Jugendlichen in diese spärlich eingerichtete Wohnung im Plattenbau gekommen sind, nicht warum Benni so traumatisiert scheint und auch nicht, wo und mit wem Katja eigentlich aufgewachsen ist. Manche Fragen klären sich im Laufe des Films, andere nicht, doch niemals stören die Fragezeichen den Zugang zu dieser Geschichte und ihren Figuren.

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Melanie Waelde erzählt ihre Geschichte mit spürbarer Liebe für ihre Charaktere, eine Liebe so präsent in jeder Minute dieses Films, dass sie fast physisch zu greifen ist. Der durch unsere Sehgewohnheiten gefühlt kleine 6:5 Rahmen des Formats erzeugt ebenso Intimität wie die Handkamera, die oft viel zu nah an den Schauspieler:innen klebt, um noch von Bildkomposition sprechen zu können, dafür aber jene Unmittelbarkeit erzeugt, aus der Nackte Tiere seine Energie gewinnt. Während Katja und ihre Freund:innen die maximale Distanz zur Welt der Erwachsenen suchen, bringt uns Waelde ihnen ganz nahe, schleust uns in ihre Höhle, und bleibt dabei doch respektvoll genug, nicht in ihre intimsten Gedanken einzudringen.

Katja in der Naheaufnahme. Sie schaut zu Benni rüber, der nur im Anschnitt zu sehen ist.

© Czar Film

Und warum auch? Die Stärke von Nackte Tiere ist gerade jene, dass wir Katjas Träume nicht kennen, dass wir nicht psychologisieren, nicht einordnen, sondern einfach nur beobachten dürfen. Dabei spitzt Melanie Waelde in diesem beachtlichen Langfilmdebüt die Handlung gerade genug zu, um ihr Publikum mit dem absoluten Minimum an notwendiger Spannung zu versorgen. Weitab der zeitgenössischen Coming of Age Dramen des Festivalkinos mit ihren Drogen- und Sexexzessen, die letztlich dem Voyeurismus der Zuschauenden mehr dienen als dem tatsächlichen Verständnis für die abgebildete Generation, schafft Waelde ein zugleich zärtliches wie auch kraftvolles Portrait von fünf jungen Leuten, die repräsentativ für eine Altersgruppe stehen könnten. Oder auch nicht. Und auch das ist egal.

Nackte Tiere wirkt durch seine Unmittelbarkeit auf erfrischende Weise beiläufig, als würden die Dinge eben einfach so passieren, sich die Figuren einfach so entwickeln, einzeln und miteinander. Und genauso dürfen wir diesen Film auch konsumieren, denn es bleiben ja ohnehin zu viele Fragen offen, um ihn durchdringen und intellektuell dechiffrieren zu können. Ach, wie angenehm das doch ist, einfach sein, einfach gucken zu dürfen.

Katja schaut in die Ferne. Sie steht in der Dämmerung auf einem Feld.

© Czar Film

Und so wie wir nicht aufgefordert sind, den Film zu analysieren, sollen wir auch die Charaktere nicht ergründen, sondern vor allem mit ihnen sein. Vor allem mit Hauptfigur Katja, der Kampfsportlerin, die zugleich furchteinflößend wie fürsorglich ist, zugleich jungenhaft wirkt und sich dann vor der Kamera die Beine rasiert. Auch Katja darf einfach sein wie sie ist, ohne Schubladen und Abziehbilder, homo, hetero, bi oder auch einfach nur queer. Wen interessiert’s? Was würde uns diese Einordnung bringen? Viel wichtiger ist doch ihr zu begegnen, ihrer Stärke ebenso wie ihrer Schwäche, ihrer Liebe ebenso wie ihrem Schmerz.

Schließlich endet Nackte Tiere ebenso unvermittelt wie er begonnen hat. Waelde erzählt keine abgeschlossene Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende, sondern zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben einer Gruppe Menschen. Das tut die Regisseurin und Drehbuchautorin so unaufgeregt und unprätentiös, dass es am Ende schwer fällt etwas Außergewöhnliches an all dem zu finden. Aber vielleicht braucht es das auch gar nicht. Vielleicht darf auch Nackte Tiere einfach nur sein. Und ist gerade darin außergewöhnlich.

Mehr Infos zum Film gibt es auf der Berlinale Webseite

Sophie Charlotte Rieger
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