Berlinale 2020: El prófugo
Consent, der englische Begriff für Einverständnis, hat sich inzwischen auch im deutschen Sprachgebrauch und insbesondere im feministischen, sexpositiven Diskurs durchgesetzt. Die Idee von Consent ist, dass Zustimmung zu sexuellen Handlungen immer explizit ausgesprochen werden muss. Nur so kann gewährleistet werden, dass alle Beteiligten auch tatsächlich einverstanden sind und keine Grenzen überschritten werden.
El prófugo, zu deutsch „Der Eindringling“, von Natalia Meta etabliert das Thema „Consent“ schon in der ersten Szene, wenn Hauptfigur Inés (Erica Rivas) eine Bondage-Szene synchronisiert und damit für einen kurzen Moment in eine Subkultur eintaucht, in der das Thema Consent besonders präsent ist. Gleich darauf sitzt die Sängerin und Sprecherin mit ihrem Lebensgefährten Leopoldo (Daniel Hendler) im Flugzeug und versucht vergeblich ihre Grenzen zu verteidigen. Im Grunde möchte sie überhaupt gar nicht hier sein, denn Inés hat Flugangst. Und auch die Schlaftabletten, die Leopoldo ihr eindringlich aufschwatzt, möchte sie eigentlich nicht nehmen. Aber ach, was soll’s. Und so geht es dann auch im Urlaub weiter: Leopoldo ignoriert wiederholt Inés‘ Ängste und möchte am liebsten bis in ihr Unbewusstes eindringen, denn insbesondere ihre Träume haben seine Neugier geweckt. Doch als die Situation gerade zu eskalieren droht und Inés endlich mit Nachdruck ihre Grenzen verteidigt, kommt Leopoldo auf mysteriöse Weise zu Tode.
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Monate später kämpft Inés noch immer mit ihrem Alltag. Sie wird von intensiven Träumen heimgesucht, hört Stimmen und hat gravierende Probleme bei der Arbeit. Anscheinend sendet ihr Körper eine Form elektromagnetischer Strahlung aus, die die Aufnahmetechnik stört. Oder handelt es sich doch um einen bösen Geist, einen „Eindringling“, der sein Unwesen treibt?
Wie es sich für einen klassischen Psychothriller gehört, spielt Regisseurin Natalia Meta mit dem Verschwimmen von Wahn und Wirklichkeit, von Realismus mit Okkultismus. Den Grusel generiert sie einerseits aus ihrem engen Fokus, der den Bildausschnitt immer wieder auf Inés‘ direkte Erfahrungswelt reduziert und damit im Unklaren belässt, von was – oder wem – die Heldin umgeben ist. Zum anderen spielt El prófugo nicht nur inhaltlich, sondern eben auch gestalterisch mit dem Thema Ton. Dabei handelt es sich nicht nur um den klassischen Suspense-Score, also eine Steigerung der Spannung durch entsprechende Musikuntermalung, sondern auch um diegetische Toneffekte, wie beispielsweise eine zu dämonischen Lauten verzerrte, extrem langsam abgespielte Synchronaufnahme von Inés. Überhaupt hat sich Meta hier ganz dem Thema Sound verschrieben und nimmt ihr Publikum mit auf eine Reise in die verschiedenen Organe desselben, den menschlichen Körper als Resonanzraum ebenso wie eine große Konzertorgel – auf Spanisch natürlich nicht zufällig „órgano“ genannt.
Leider geht es im Zusammenspiel all dieser Bedeutungsebenen manchmal ganz schön verkopft zu. Natalia Meta fordert ihre Zuschauer:innen vor allem intellektuell anstatt im Stile des Horrorgenres auf unbewusste Ängste zuzugreifen und den Grusel körperlich spürbar zu machen. Zu viel wird auf sprachlicher Ebene erklärt – elektromagnetische Felder hier, geisterhafte Eindringlinge da – und zu wenig über die Bildsprache vermittelt. Das verhindert ein tiefes Eintauchen in Inés‘ albtraumhaftes Erleben und schwächt den Spannungsbogen.
Als tatsächlich verstörend erweist sich dann aber vor allem die metaphorische und bereits im Titel angelegte Ebene des Eindringens. Spätestens die Bezüge zum Tentacle–Porn stellen unbestreitbar eine direkte Verbindung zwischen den „Eindringlingen“ und dem Thema sexualisierte Gewalt her. Tatsächlich muss Inés im Laufe des Films vor allem lernen, an den richtigen Stellen klare Grenzen zu ziehen, wobei schon dieser Botschaft eine klassische Täter-Opfer-Verdrehung anhaftet. Denn es ist nicht an den Betroffenen sich besser abzugrenzen, sondern an den Ausübenden nicht anderer Menschen Grenzen zu überschreiten. Im Finale des Films schließlich bricht die Metapher entweder in sich zusammen oder aber trifft eine höchst streitbare Aussage. Zu Glück und Gelassenheit nämlich findet die gebeutelte Hauptfigur erst als sie aufhört, sich gegen den Eindringling zur Wehr zu setzen…
Was will uns die Künstlerin damit sagen? Dürfen wir Natalia Meta hier unterstellen, unbeabsichtigt eine Vergewaltigungskultur fortzuschreiben, in der Frauen sich „einfach nicht so haben“ sollten? Oder will uns die argentinische Regisseurin gezielt verstören und darauf hinweisen, dass dies doch nicht die Lösung des Problems einer Grenzüberschreitung sein könne? Ist diese Ambivalenz überhaupt moralisch vertretbar? Und macht die Tatsache, dass sich diese Fragen derart aufdrängen, El prófugo zu einem sehenswerten Film?
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