Berlinale 2020: First Cow

Vor inzwischen fünf Jahren hat uns The Revenant gezeigt, dass der wilde Westen auch ohne Prärie die Bühne für konservative Männlichkeitskonstruktion bieten kann. First Cow von Kelly Reichardt spielt zwar vermutlich nicht ganz zufällig im selben Milieu, nämlich bei den Pelztierjägern im matschig-verregneten Wald der nordwestlichen Territorien im frühen 19. Jahrhundert, zeichnet dann aber doch ein ganz anderes Bild als Leos Oscar prämierter Überlebenskampf gegen Bären und andere Bösewichte.

Cookie und King im Wald. Cookie lächelt freundlich.

© Allyson Riggs/A24

Nur in einem sind sich die beiden Filme einig: Für Frauen ist an diesem Ort kein Platz. Auch in First Cow lassen sich die weiblichen Rollen an einer Hand abzählen und für die namentlich genannten braucht es nicht einmal einen einzigen Finger. Im Zentrum der Geschichte stehen stattdessen der Koch Cookie Figowitz (John Magaro) und sein chinesischer Freund King Lu (Orion Lee). Die beiden haben sich eines Nachts im Wald kennengelernt, aber das ist eine andere Geschichte. Nun teilen sie sich eine kleine Hütte am Rande eines Forts und verkaufen auf dem Markt selbstgemachtes „Ölgebäck“ – je nach Land und Region auch Donut, Berliner oder Pfannkuchen genannt. Die hierfür notwendige Milch rauben sie nachts klammheimlich der ersten und einzigen Kuh der Region, Besitztum des hiesigen Hauptmanns. Und natürlich kann dieses illegale Geschäft nicht lange gut gehen…

Cookie mitten im Wald. Er wirkt verloren in den Büschen und Bäumen.

© Allyson Riggs/A24

In ruhigen bis statischen Kameraeinstellungen und Bildkompositionen zum Niederknien inszeniert Kelly Reichardt hier ein durch und durch ernst gemeintes und dem Realismus verhaftetes Frontier-Setting. Schon das 4:3 Format verbietet dabei das Schwelgen in sublimen Landschaftspanoramen des Hochglanz-Westerns und reduziert die Geschichte ganz auf ihre Figuren und deren Beziehung. Der sanfte, aber omnipräsente Humor liegt dabei in der Tiefe, nicht im Stile einer Komödie an der greifbaren Oberfläche, und entspringt größtenteils der subtilen Entlarvung jener Männlichkeit, die der klassische Western zum Heldenmythos erhoben hat.

Während die beiden Hauptfiguren miteinander tun, was Männer abseits der Zivilisation nun einmal tun müssen – nämlich putzen, kochen und Socken stopfen – erinnern die übrigen Bewohner des nahen Forts eher an Höhlentrolle. Ihre Dialoge können vermutlich nur mit drei Shots Whisky intus voll erfasst werden, so dass es uns nicht weiter verwundert, dass sie ihre Konflikte vornehmlich non-verbal austragen. Cookie und King bilden als empfindsame und hilfsbereite Menschen hierzu einen fast überdeutlichen Kontrast.

Cookie im Wald, die Sonne scheint und taucht ihn in güldenes Licht.

© Allyson Riggs/A24

Die Seitenhiebe auf das in der US-Kultur (und nicht nur dort) tief verankerte Männlichkeitsideal von physischer Stärke, Konkurrenz und Aggression vollzieht Kelly Reichardt in First Cow derart subtil, dass ein beträchtlicher Teil ihres Publikums sie wohl nur unbewusst wahrnehmen wird. Was diese gesellschaftspolitischen Kommentare freilich kein bisschen weniger wahr macht. Mit Zaunpfählen zu fuchteln ist ohnehin nicht die Art der Regisseurin, die wir durch Filme wie Certain Women oder Night Moves bereits als eine Freundin des eher leisen und bedächtigen Kinos kennen. Auch First Cow nimmt sich für die Narration jede Menge Zeit, setzt nicht auf komplexe Handlungsstränge, sondern auf eine simple Geschichte, die von ihrer Atmosphäre und den Figuren lebt und deren Ende ein kurzer Prolog ohnehin gleich zu Anfang vorweggenommen hat. First Cow geht es also nicht um Spannung, sondern um das Portrait einer ganz besonderen Männerfreundschaft, die wir im Kino in dieser Form viel zu selten sehen.

Die Kuh ist da: Eine Kuh läuft über einen Holzsteg an Land. Am Flussufer und Waldrand stehen Männer in Kleidung des 19. Jahrhunderts.

© Allyson Riggs/A24

Eins ums andere Mal müssen wir dabei über unsere eigene Erwartungshaltung schmunzeln, wenn Cookie und King sich anders verhalten als wir das von „Westernhelden“ gewöhnt sind oder wenn Kelly Reichardt die Narration von First Cow mal wieder haarscharf an den ausgetretenen Pfaden des Genres vorbeiführt. Und damit formulieren die Regisseurin und ihr Co-Autor Jonathan Raymond, der auch die zu Grunde liegende Erzählung verfasst hat, mit First Cow überaus spannende Fragen: Was wäre wenn der Western schon immer dieses Narrativ gewählt, schon immer dieses Männerbild als heldenhaft formuliert hätte? Wenn raubeinige Abenteurer schon immer mehr an Höhlenmenschen denn an edle Ritter erinnert und statt des Überlebens des Stärkeren vom klassischen Western Hilfsbereitschaft und Brüderlichkeit beworben worden wären? Wie würde insbesondere die US-amerikanische Gegenwart aussehen, wenn der für diesen Kulturraum so entscheidende Frontier-Mythos nicht auf der Dichotomie von Wildnis/Mann/Freiheit versus Zivilisation/Frau/Gefängnis errichtet worden wäre?

Nun ja, es ist definitiv noch nicht zu spät für Westernhelden, die Donuts backen!

Sophie Charlotte Rieger
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