Berlinale 2020: Kids Run
Ein Männerrücken. Boxarena. Grölen und Hip Hop Bässe. Ein Kampf. Eine Niederlage. Blut und Schweiß. So beginnt Barbara Otts Debütfilm Kids Run, ein deutsches Boxerdrama, das seinen ikonischen US-amerikanischen Vorgängern meilenweit überlegen ist.
Die Synopse liest sich auf den ersten Blick vielleicht ein wenig zu bekannt: Ein vom Leben gebeutelter verschuldeter Ex-Boxer möchte sich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Schuldenberg herausboxen und mit seinem Comeback auch die noch immer geliebte Ex zurückerobern. Auf den zweiten Blick wird es dann aber schon etwas komplexer, denn Andi (Jannis Niewöhner) kämpft auch um das Sorgerecht für seine drei Kinder. Nur ob die Fäuste dafür wirklich das richtige Werkzeug sind?
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Barbara Otts erste Kameraeinstellung, der Blick auf Andis Rücken, etabliert bereits eines ihrer zentralen Themen: Männlichkeit. Doch der Regisseurin geht es nicht um die Überhöhung eines tragischen Helden und seiner genuin männlichen Qualitäten, sondern um die genderkritische Analyse all jener Zusammenhänge, die ihn überhaupt erst in seine tragische Lage gebracht haben. Andi unterscheidet sich von anderen filmischen Boxerhelden vor allem durch seine Fehlbarkeit, die obwohl stets als solche sichtbar niemals die Einfühlung in seine Figur verhindert. Damit gelingt der Regisseurin eine kleine, aber feine Unterscheidung, die viele andere Filme, insbesondere jene zu den Themen Männlichkeit und Gewalt, vermissen lassen: Die Fähigkeit zur Empathie zieht nicht automatisch die Vergebung aller Sünden nach sich. Oder anders formuliert: Wir können Andis Handeln nachvollziehen, ohne es zu entschuldigen.
Doch Andi ist nicht die einzige Figur, der Barbara Ott mit dieser spürbaren Fairness gegenübertritt. Auch die beiden zentralen Frauenfiguren, die Mütter von Andis insgesamt drei Kindern, treten als Menschen mit gravierenden Schwächen, niemals aber als jene diabolischen Hysterikerinnen auf, als die Ex-Frauen bzw. -Freundinnen gerne inszeniert werden. Barbara Ott beschreitet hier souverän den schwierigen Weg, auch jenen Figuren, die im Rahmen der „Heldenreise“ als Kontrahentinnen dienen, mit Respekt zu begegnen. Auffällig ist dabei insbesondere die Charakterzeichnung von Isabel (Carol Schuler), die auf Grund nicht näher definierter psychischen Probleme und vermutlich auch einer Sucht-Erkrankung als Mutter auf furchtbare Weise versagt, beim Publikum dabei aber niemals Gefühle der Verachtung weckt.
Andi selbst begegnet den Menschen mit weit weniger Feingefühl. Sein Männlichkeitskonzept steht seiner Impulskontrolle stark im Weg, seine Urteile sind harsch und drücken sich gerne auch non-verbal und handgreiflich aus. Dabei weckt Andi weniger unsere Antipathie als unser Mitleid, ist es doch offensichtlich, dass diese Welt ihm nicht das Werkzeug mitgegeben hat, sich mit anderen Mitteln gegen Ungerechtigkeit zu wehren als mit den eigenen Fäusten. Auch dass Andi glaubt, mit einem Boxkampf seine Existenz sichern zu können, ist deutlich als fixe Idee erkennbar. Unfähig an den richtigen Stellen um Hilfe zu bitten und für das eigene Leben die notwendige Verantwortung zu übernehmen, ist es ein fehlgeleiteter männlicher Stolz, der Andis Abwärtsspirale vorantreibt.
Indem sie diesen Subtext sehr differenziert und doch deutlich lesbar vermittelt, vermeidet Barbara Ott den Pathos des klassischen Boxerdramas ebenso wie die mit ihm einhergehende moralische Überhöhung seines Helden. Andi ist kein liebenswerter Verlierer, dem wir seine Entgleisungen gerne verzeihen und dessen Aufstieg zum glorreichen Gewinner uns schließlich zu Tränen rührt. Andi ist einfach nur ein Mann, einer von vielen, an dem die toxischen Folgen einer sexistischen Gesellschaft deutlich zu Tage treten. In dieser Charakterisierung gleitet Ott niemals ins Sozialdrama ab, auch wenn die anhaltende Dramatisierung der Ereignisse ihrem Gesamtwerk einen kleinen Teil seiner Authentizität raubt. Größtenteils wandelt sie gekonnt auf einem schmalen Grat zwischen verschiedenen Genres, bedient sich hier und da an Elementen eben jener und konstruiert im Ganzen dann etwas Neues, ein ebenso glaubwürdiges wie auch mitreißendes, ein niemals biederes und trotzdem der Realität verhaftetes Kino.
Auch handwerklich überzeugt die Debütregisseurin durch ein kohärentes Gesamtwerk. Das Setting in einer tristen Hochhaussiedlung einer anonymen deutschen Großstadt und die grauen und trüben Farben lassen keinen Raum für die Glorifizierung der ambivalenten Hauptfigur. Die Handkamera und Montage wiederum machen die Rast- und Ruhelosigkeit Andis, seine Anspannung, die Wut und Enttäuschung in der sich zuziehenden Schlinge spürbar. Nicht zuletzt beeindruckt auch die Schauspieler:innenführung, insbesondere im Zusammenspiel der Erwachsenen mit den stets überzeugenden Kinderdarsteller:innen. Vor allem Jannis Niewöhner überrascht mit seiner nuancierten Darstellung und transportiert glaubwürdig die im Buch von Barbara Ott angelegte Komplexität seiner Figur, die verschiedenen Facetten von Verletzlichkeit über väterlicher Fürsorge bis hin zu stereotyp männlicher Selbstbehauptung.
Nach ihrem mittellangen Film Sunny widmet sich Barbara Ott mit Kids Run wiederholt dem Themenkomplex Vaterschaft und Männlichkeit im Zusammenhang mit finanziell prekären Lebensumständen. Dabei gelingt ihr nicht nur ein kraftvoller Spielfilm, sondern auch ein im Kontext des deutschen Kinos überfälliges Männerportrait. Es sind genau diese Figuren, die wir brauchen, um auf der Leinwand wie auch in der Realität ein Männlichkeitsbild zu überwinden, dass nicht nur Individuen in ihrer Entfaltung, sondern auch unsere Gesellschaft auf ihrem Weg zu Gleichberechtigung und Gerechtigkeit behindert.
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