Berlinale 2025: La Tour de glace – Kurzkritik

Die Postkarte einer Freundin hinterlässt bei Jeanne (Clara Pacini) eine so große Sehnsucht nach der großen weiten Welt, dass sie das Waisenhaus in den Alpen verlässt und sich fußläufig in die nächste Stadt durchschlägt. Völlig mittellos verbringt sie die eisigen Nächte im Keller eines Gebäudes, das sich als Filmstudio entpuppt. Dort laufen ausgerechnet Dreharbeiten zu ihrem Lieblingsmärchen: Die Schneekönigin. Jeanne, die sich jetzt Bianca nennt, erregt die Aufmerksamkeit der Hauptdarstellerin und kühlen Filmdiva Cristina (Marion Cotillard), die zur Patronin des jungen Mädchens wird. Doch was genau ist Cristinas Motivation?

© 3B-Davis-Sutor Kolonko-Arte-BR

La Tour de Glace von Lucile Hadžihalilović erzählt eine düster-märchenhafte Geschichte von Idolen, Bewunderung und Verführung. Jeanne, die einen Großteil ihres Lebens in einem abgelegenen Waisenhaus verbracht hat, wird durch die Postkarte ihrer Freundin zum Ausbruch aus diesem Leben verführt, eine Postkarte, die ihr ein pittoreskes Bild einer Eisfläche zeigt. Tatsächlich findet Jeanne diesen Sehnsuchtsort und beobachtet voller Bewunderung das Treiben dort, im Besonderen eine junge Frau, die kunstvoll Pirouetten dreht. Ungeschickt versucht sie, Kontakt zu ihr zu knüpfen… und scheitert. Als Jeanne später aus ihrem Versteck im Filmstudio Cristina als Schneekönigin erblickt, wiederholt sich die Faszination und Bewunderung aus der Schlittschuhszene. Die Schneekönigin, obwohl in ihrem Märchen die Gegenspielerin der Heldin, ist Jeannes Idol und Identifikationsfigur. In der Einsamkeit der bösen Zauberin im ewigen Eis findet sie sich selbst wieder.

Ob Jeannes Faszination für Schauspielerin Cristina sich nur aus deren Rolle, ihrem Starstatus oder ihrer Persönlichkeit abseits der Kameras speist, ist an dieser Stelle unerheblich. Hadžihalilović verwebt in ihrem Film drei Ebenen untrennbar miteinander: das Märchen, den Film im Film (von niemand Geringerem gedreht als Gaspar Noé als Regisseur Dino) und dessen Rahmenhandlung. Cristina ist die Schneekönigin, Jeanne das Kind, das sie verführt und in ihr Schloss lockt. 

© 3B-Davis-Sutor Kolonko-Arte-BR

In einem immens entschleunigten Erzähltempo und mit zum Teil surrealen Bildern – im Film wie auch im Film im Film – versucht Lucile Hadžihalilović ihr Publikum auf ähnliche Weise in ihren Bann zu ziehen wie die Schneekönigin ihre Opfer. Statt eine Geschichte zu erzählen, transportiert La Tour de Glace Gefühle von Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, vor allem aber Sehnsucht – nach Anerkennung, nach Gesehenwerden und nach Zugehörigkeit. Und der Film zeigt, wie diese Emotionen und Sehnsüchte auf Personen projiziert große Macht verleihen. Die Schneekönigin bzw. Cristina könnte ebenso gut eine Influencerin auf Instagram sein, eine Person, die sich selbst inszeniert, um andere zu verführen, ihr nachzueifern. 

Leider scheitert der Versuch, das Publikum ähnlich hypnotisch zu bannen, wie dies die Schneekönigin vermag. Das Erzähltempo ist zu langsam, die Szenen zu spannungsarm, um trotz ihrer Ereignislosigkeit einen Sog zu erzeugen. Stattdessen blasen sie den Film unnötig auf, ohne ihn mit ausreichend greifbarem Inhalt zu füllen. So wirkt die durchgehend mit Bedeutung aufgeladene mysteriöse Stimmung zunehmend ermüdend, statt Interesse für das Dechiffrieren der Leinwandbilder zu wecken. 

La Tour de Glace ist im Wettbewerb der 75. Berlinale zu sehen.

Sophie Charlotte Rieger
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