Il Cinema Ritrovato Edition 39: CHRISTOPHER STRONG Revisited

Diese Frau lebt unkonventionell: Lady Cynthia Darrington ist Mitte zwanzig, fährt rasant und nachts allein Auto, lebt zusammen mit ihrer Haushälterin und ihre Leidenschaft gehört der Aeronautik. Der Name – to dare, „sich trauen“ – spricht, ist Programm. Bevor die Zuschauenden von Christopher Strong (1933) sie persönlich kennenlernen, wird sie via eines Zeitungsberichts, der Lady Cynthia in Fliegerkappe porträtiert, eingeführt. Für das zeitgenössische Publikum war es ein noch frisches Gesicht, das unbewegt und selbstsicher von der Leinwand blickte. Die Rolle der Lady Cynthia sollte Katherine Hepburn zum Star machen. 

© Bianka-Isabell Scharmann

Das Filmfestival Il Cinema Ritrovato widmete in seiner 39. Ausgabe dieses Jahr der Hollywood-Ikone Katherine Hepburn eine eigene Filmreihe: Unter dem Titel „Katherine Hepburn: Feminist, Acrobat and Lover“ waren insgesamt 11 Filme aus den ersten drei Dekaden ihrer Leinwandkarriere ausgewählt worden – darunter der queere Klassiker Sylvia Scarlett (1935, R: George Cukor), die 1938 gefloppte Screwball-Komödie Bringing Up Baby (dt.: Leoparden küsst man nicht, R: Howard Hawks), die nachfolgend Kultstatus erlangt hat, bis hin zur weniger bekannten Arbeitsplatzkomödie Desk Set (1957, R: David Lean). Der chronologisch älteste Film ist das Melodrama Christopher Strong, bei dem Dorothy Arzner, die bis heute als die erfolgreichste Regisseurin des US-amerikanischen Kinos gilt, Regie geführt hat. Die versierte Drehbuchautorin Zoe Akins verantwortete die Adaption. ___STEADY_PAYWALL___

Christopher Strong beginnt auf einer Party, wo ein neues Spiel zur Unterhaltung der Gäste erdacht werden muss: Wer einen Mann, der seit mindestens 5 Jahren glücklich verheiratet ist und noch nie eine Affäre hatte, und eine Frau, die alleinstehend ist und noch nie verliebt war, findet, darf sich als Sieger*in der Schnitzeljagd küren lassen. Monica Strong (Helen Chandler) fährt kurzerhand nach Hause, um ihren Vater, Sir Christopher (Colin Clive), zu überreden sie als Trophäe auf die Party zu begleiten, der – als arbeitsamer und pflichtbewusster Parlamentarier – natürlich nachts um vier Uhr noch wach ist. Seiner Tochter keinen Wunsch abschlagen könnend, schwingt er sich auf ein Motorrad. Auf der Straße, wie kann es anders sein, trifft er auf eine junge Frau, die mit heruntergelassenem Verdeck durch die Nacht in ihrem Auto jagt. Bei dieser handelt es sich selbstredend um Lady Cynthia. Ein harmloser Unfall versetzt Sir Christopher auf den Beifahrersitz und so findet sich, wie kann es anders sein, das Gewinner*innenpaar des Spiels noch vor Ankunft auf der Party nebeneinander wieder. In Hollywoodkonventionen melodramatischer und romantischer Genres versierte versierte Zuschauende haben spätestens ab diesem Punkt verstanden, welches Schicksal für das ungleiche Paar vorgesehen ist.

© RKO Pictures/Time Warner

Das dennoch keine Narration folgt, die über weite Strecken mit den üblichen Klischees aufwartet, was bereits eine zeitgenössische Kritik von Mordaunt Hall in der New York Times bemerkt hat, ist sicherlich auf die Regiearbeit Arzners und Akins’ Skript zurückzuführen. Mensch könnte an dieser Stelle tiefer auf die leicht subversive Filmarbeit Arzners innerhalb Hollywoods eingehen, hinweisen möchte ich dennoch nur konkret auf Dance, Girl, Dance (1940), der Arzners Entwicklung im versierten Spiel mit etablierten Konventionen wunderbar verdeutlicht. Christopher Strong ist ein Pre-Code-Film, der zwei außereheliche Affären thematisiert: Auch Sir Christophers Tochter Monica ist in einer Beziehung mit einem verheirateten Mann, der sie, nach seiner erfolgreichen Scheidung, ehelicht. Lady Elaine Strong, gespielt von Billie Burke, die heute vor allem für ihre ikonische Rolle der Glinda in The Wizard of Oz (1939) bekannt ist, weiß früh von der Affäre und hält sich zurück – möglicherweise wohl wissend, dass ihr Mann sie niemals verlassen wird. Auch außereheliche Schwangerschaft wird thematisiert. Doch Abtreibung wäre selbst für einen Pre-Code-Film ein zu großer Tabubruch gewesen. So gibt es denn nur einen möglichen Ausweg für die ungewollt Schwangere. Und das ist wiederum ganz Konvention: Wenn man nicht heiraten kann, muss man sterben.

© RKO Pictures/Time Warner

Ein zentraler Moment der Narration ist aus Sicht des Kostüms der spektakulärste: Wenn Lady Cynthia verkleidet als glitzernde Motte aus der Tür kommt und Sir Christopher gegenübertritt, dann erstrahlt ihr Körper in tausend kleinen Reflektionen. Cynthias Robe, ein Ganzkörperpaillettenkleid mit Kopfteil samt Fühlern und Witwenspitz, an den Schultern ein langer Mantel mit Stehkragen, lässt ihren Körper förmlich erstrahlen, formt diesen geradezu aerodynamisch: Jede Kurve nehmend, verweist das Design des Kostümbildners Walter Plunkett auf die Leidenschaft der Adligen für schnelle Autos und Flugzeuge. Passenderweise lautet ein alternativer Titel des Films The White Moth. Lady Cynthia erstrahlt in diesem Moment nur für Sir Christopher, wir sehen sie nicht auf dem Ball, für den das Kostüm gedacht ist. Christopher Strong ist auch eine Lektion in Falter-Metaphern: Kein Schmetterling, sondern eine Motte, angezogen vom Licht, wird ihrer Flugbahn desorientiert. 

Die Entwicklung der Beziehung zwischen Darrington und Strong kippt, als dieser sein Versprechen ihr gegenüber, niemals von ihr zu fordern, dass sie sich ändert und das Fliegen aufgibt, bricht. Sie gibt in der Folge einen Teil ihrer Selbst auf, Freundschaften und Kontakte brechen weg. Zu spät merkt sie, was sie verloren hat. Ein letzter heroischer Akt verwandelt ihr Vermächtnis in eine Statue. Christopher Strong  versinnbildlicht die extremen Konsequenzen wortbrüchiger Liebhaber und was es kosten kann, sich selbst aufzugeben – und darin liegt letztendlich die zentrale Aktualität des Films. 


© Foto: privat

Über die Gast-Löwin: 

Bianka-Isabell Scharmann arbeitet als Film- und Medienwissenschaftlerin an der Universität zu Köln. In ihrem Dissertationsprojekt, verortet an der Universität Amsterdam, erarbeitet sie eine feministische Filmhistoriografie textiler Filter. Bianka forscht und lehrt zu feministischer Filmtheorie, Mediengeschichtsschreibung, Experimentalfilm sowie Filmkostüm, Mode, und textiler Kunst.