Remake 2018: Dance, Girl, Dance

Dorothy Arzner war eine der wenigen Regisseurinnen, vielleicht sogar die einzige, die sich in den 1940er Jahren trauten, im Männer*club des US-amerikanischen Mainstreamkinos mitzumischen, und ihr Melodram Dance, Girl, Dance hat alles, was es für gefühlsbetontes Eskapismuskino braucht: Eine Hure, eine Heilige, einen Retter und viel Musik. Deshalb waren auch einige Zuschauerinnen bei den Frankfurter Frauenfilmtagen 2018 über die Programmierung des Films ein wenig verwundert, vermissten sie doch den rechten feministischen Mehrwert. Ich bin da vollkommen anderer Meinung.

Zugegeben: Die Figurenaufstellung ist bedauerlich stereotyp. Da sind die herzensgute, fürsorgliche und jungfräulich wirkende Judy und die promiskuitive Rampensau Bubbles, die gemeinsam in einer Showgirl-Gruppe tanzen. Eines Abends lernen sie Mr. Harris kennen, von dem sie beide aus unterschiedlichen Gründen einen Korb erhalten. Harris steckt nämlich, wie wir kurz darauf erfahren, gerade in einem höchst unerfreulichen Scheidungsverfahren von seiner Ehefrau*.

© UCLA Film Television Archive

Aber zurück zu den Showgirls, die wegen einer Razzia ihren Job verlieren. Während die verführerische Bubbles für die Burlesque-Bühne entdeckt wird, träumt die sanfte Judy von einer Karriere als Prima Ballerina, entbehrt aber das notwendige Selbstbewusstsein für ein Vortanzen. Schließlich willigt sie ein, als Pausenclown in Bubbles Show aufzutreten und erträgt für das finanzielle Auskommen demütig die Buhrufe, die ihre vergleichsweise biedere Tanzeinlage begleiten – bis Mr. Harris auftaucht und einen Konflikt sät, durch den Judy endlich über sich hinauswächst.

Die Nebeneinanderstellung der beiden zentralen Frauen*figuren ist höchst problematisch, findet sich hier doch das Hure-Heilige-Paradigma des klassischen Hollywood-Kinos, das Frauen* grob in Schuldige und Unschuldige aufteilt, wobei freilich nur die Unschuldigen ein Happy Ending verdient haben. Bubbles, die zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht mit weiblichen* Reizen geizt, ist in dieser Logik auch die unehrliche, zuweilen boshafte Figur, während Judy, die nicht einmal sexy sein kann, wenn sie das unbedingt möchte, bis fast zum Schluss eine lupenreine Weste behält.

Doch dann kommt alles anders, denn Judy emanzipiert sich vom demütigen Mäuschen zur aggressiven Powerfrau* – und das gleich auf mehreren Ebenen. Zunächst tritt sie ihrem grölenden Publikum entgegen und entlarvt dessen Perspektive, die Laura Mulvey mehr als 30 Jahre später den „männlichen Blick“ nennen wird. Judy dreht den Spieß um: Das Spektakel, der kommerzialisierte, entpersönlichte weibliche* Körper wird wieder zur Person und richtet den Blick auf die Zuschauer, entlarvt deren Scheinheiligkeit und attackiert damit gleich noch das Kinopublikum, das sich demselben Voyeurismus schuldig macht – ein feministischer Magic Moment par excellence.

Und dann geht Judy auf Bubbles los. Ja, tatsächlich sieht diese ziemlich mitgenommen aus, als die beiden Frauen* wenig später gemeinsam vor dem Haftrichter stehen. Und Judy versucht gar nicht erst, sich herauszureden. Sie steht zu ihrer Tat – und das ohne sie schönzureden. Ihre weiße Weste ist befleckt. Sie hat erfolgreich die Transformation von der unterdrückten zur wütenden Frau* vollzogen.

Und Bubbles? Bei genauerer Hinsicht ist auch diese weitaus komplexer als das Klischee der promiskuitiven Femmes Fatales. Sie ist gerissen und zuweilen rücksichtslos, aber auch fürsorglich, begleicht heimlich die Mitschulden ihrer ehemaligen Kolleginnen und verschafft Judy ein zwar erniedrigendes, aber zugleich auch gut bezahltes Engagement. Bubbles weiß sich in der kapitalistisch-sexistischen Männer*welt durchzusetzen und geht mit erhobenem Haupt und großem Vermögen als Siegerin aus der Geschichte hervor. Der Film bestraft sie nicht für ihr Handeln, lässt sie nicht scheitern, und verleiht ihrem Lebensentwurf damit Legitimität.

Die feministische Haltung des Films zeigt sich auch auf subtilere Weise, beispielsweise wenn sich eine der Hauptfiguren gegen die übergriffige Berührung eines Polizisten wehrt oder die Tänzerinnen mutig für ihr Honorar einstehen. Sie zeigt sich auch in der Besetzung selbst, die in den Nebenrollen Raum für interessante Frauen*figuren schafft, die weitaus mehr sind als „sexy Lampen“. Und das lässt sich selbst im Jahre 2018, fast 80 Jahre später, noch immer von den wenigsten Mainstreamfilmen behaupten!

Was mich persönlich aber am meisten fasziniert, und hier werde ich rücksichtslos spoilern, ist das albtraumhafte Happy Ending, das mich an das Unhappy Happy Ending der Melodramen von Douglas Sirk erinnert. Judy, für die ihre Tanzkarriere meist oberste Priorität besitzt, landet schließlich in den Armen eines Ballettregisseurs, der sie mit den Worten „You had your own head long enough“ besitzergreifend an seine Brust drückt.

Und natürlich ist das keine Niederlage. Natürlich will uns Dorothy Arzner hier nicht erzählen, dass Judys Glück im Ignorieren ihrer eigenen Bedürfnisse und in den Armen eines Patriarchen liegt. Zumindest spricht alles an diesem Film gegen eine solche Interpretation. Viel wahrscheinlicher ist, dass gerade in der Absurdität die Kritik des klassischen Hollywood Happy Endings liegt, in dem eine Heldin all ihre Errungenschaften und Unabhängigkeit über Bord wirft, um sich endlich romantisch an einen Mann* zu binden. Nein, Judy hat sich nicht emanzipiert, nicht ihre Wut entdeckt und frei gesetzt, um sich den Mund verbieten zu lassen. Wahrscheinlich schmunzelt sie still in sich hinein und wird – frei nach Bubbles’ Vorbild – den Mann* an ihrer Seite gehörig für die eigenen Zwecke missbrauchen.

In meinen Augen ist Dance, Girl, Dance daher ein herausragend emanzipatorisch wertvoller Film, von dem ich kaum fassen kann, dass er schon 1940 entstanden ist, während wir uns in der Gegenwart immer noch damit quälen, Frauen* Wut zuzugestehen – auf der Leinwand wie vor allem auch abseits davon.

Sophie Charlotte Rieger
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