Berlinale 2020: Kokon

“Die Erinnerung ist alles, was dem Schmetterling von seinem Leben als Raupe bleibt. Und mir von diesem Sommer”. Mit dieser Metaphorik verabschiedet sich die Hauptfigur Nora (Lena Urzendowsky) aus Kokon, dem zweiten Langfilm der Regisseurin und Drehbuchautorin Leonie Krippendorff. Der Schmetterling, seine Metamorphose, seine Entwicklung von der unscheinbaren Raupe zum prächtigen Imago – dies sind oft benutzte, gar abgenutzte Symboliken für Adoleszenz. Doch die inflationäre Referenz auf den Schmetterling ändert nichts daran, dass er sich dann doch ein ums andere mal als fruchtbare Idee für interessante Geschichten entpuppt. Zumindest dann, wenn die Geschichtenerzählerin erkennt, dass die Entwicklung des Schmetterlings mehr bietet, als nur einen oberflächlichen Wandel von “hässlich” zu “schön”, und auch Themen wie die Entdeckung des Körpers und das Kennenlernen der eigenen Sexualität greifbar macht. 

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Der Schmetterling, beziehungsweise die Raupe, ist in diesem Fall die 14-jährige Nora. Sie lebt zusammen mit ihrer älteren Schwester Jule (Lena Klenke) und ihrer Mutter Vivienne (Anja Schneider) in Kreuzberg. Als sie wegen einer gebrochenen Hand nicht an einer geplanten Klassenfahrt teilnehmen kann, wird sie kurzerhand in die Klasse ihrer Schwester versetzt und verbringt daraufhin den überaus heißen Sommer 2018 in der multikulturellen Clique der beliebten Jule. In diesem Umfeld lernt sie Romy (Jella Haase) kennen und verliebt sich in sie. Überfordert mit den Veränderungen ihres Körpers (sie bekommt zum ersten Mal ihre Tage) und dem Aufkommen ungeahnten Begehrens ist der Sommer für die schüchterne Nora ein wahrer Hürdenlauf und die Ziellinie lange nicht in Sicht. 

© Martin Neumeyer/JOST HERING FILME

Es ist schon auf den ersten Blick klar, dass der Film eine klassische Coming-of-Age-Story erzählt, eine Geschichte, die ihre Konflikte zwischen im Spannungsfeld zwischen Selbstfindung und dem Wunsch nach Zugehörigkeit ansiedelt. In der Wahrnehmung von Jugendlichen ist die Frage nach “Mag sie mich oder mag sie mich nicht?” oft von stärkerer Bedeutung für das eigene Leben als die sozioökonomischen Verhältnisse, in denen sie leben. Doch es ist trotzdem auffällig, wie stark Kokon eben jene Verhältnisse ausblendet. Einerseits orchestriert der Film das Leben von Nora und Jule als problembehaftet – ihre Mutter ist Trinkerin, ihre männlichen Freunde reaktionäre Machos – und andererseits schafft der Film in seinen Bildern  und dem gefälligen Tempo der Erzählung eine starke Wohlfühlatmosphäre. Das wirkt widersprüchlich und erschwert eine emotionale Involvierung der Zuschauenden. 

Dabei hat der Film durchaus das Potenzial mehr als nur ein kurzweiliger Ausflug in die Gefühlswelt einer 14-Jährigen zu sein. Als Film, der sich vornehmlich an ein junges Publikum richtet, schafft es Kokon an Themen wie lesbisches Begehren oder Selbstbefriedigung leichtfüßig und zugleich jenseits von Stereotypen heranzuführen. Doch zwei Mädchen, die sich mögen, machen noch lange keinen queeren Film. Kokon scheitert leider daran, seine Zugänglichkeit mit einem emanzipatorischen Anspruch unter einen Hut zu bringen.. Seine konsequente Abbildung normschöner Körper und der intime Blick auf diese beißen sich unablässig mit der Problematisierung von Körperidealen, die der Film beispielsweise durch Mobbingdynamiken in der Clique veranschaulicht. Die machistische Männlichkeit von Jules Klassenkameraden bleibt unkommentiert und der heteronormative Blick der Kamera formt die Ästhetik des Films maßgeblich. So ist Kokon enttäuschend ordinär für eine Erzählung, die die Freiheit der ersten Flügelschläge eines Schmetterlings anpreisen möchte.

© Martin Neumeyer/JOST HERING FILME

Darüber hinaus kämpft der Film mit typischen Schwierigkeiten, die sich aus einem jungen Cast ergeben – und verliert dabei. Das Setting leidet sehr darunter, dass viele der jungen Schauspieler:innen wirken als würden sie ihre Zeilen von den Innenseiten ihrer Hände ablesen. Die Dialoge sind zum Teil verkrampft und unnatürlich, beispielsweise das Gespräch zwischen Nora, Jule und ihrer Mutter, in dem sie über die Legitimität freizügiger Kleidung diskutieren und dabei dennoch so desinteressiert und inszeniert wirken, als hätte sie jemand in einen Debattierclub gezwungen. Geradezu auffallend konträr dazu sind die Szenen zwischen Nora und Romy, die vom starken expressiven Talent der Schauspielerin Jella Haase leben. Sie spielt ihre Rolle mit müheloser Natürlichkeit. Besonders Situationen, die ein bestimmtes Fingerspitzengefühl erfordern, wie erste Annäherungen und Zweisamkeiten, lösen wegen ihr niemals ein Gefühl der Unbehaglichkeit aus. Hier schafft es der Film auch sein Versprechen des intimen Porträts einzulösen, das bereits im Filmtitel schlummert. Mit ein wenig mehr Liebe zur Authentizität hätten sich im Zusammenspiel von Jella Haase und Lena Urzendowsky durchaus ikonische Momente ergeben können.

Doch ikonisch wird Kokon vermutlich nicht mehr werden. Weder für den deutschen Coming-of-Age-Film und erst recht nicht für queeres Kino. Dafür versammelt der Film zu viele Schwachstellen und entwickelt zu wenige neue Ideen. Das macht Kokon zwar noch lange nicht zu einem schlechten Film – die unbeschwert sommerliche Atmosphäre im Zusammenspiel mit Leonie Krippendorffs fotografisch angehauchten Bildkompositionen lassen sich fraglos für anderthalb Stunden genießen – doch mehr als kurzweilige Unterhaltung bietet er nicht. Letztendlich sind das Eintauchen in ein oberflächlich inszenierten Milieu und die zarte, aber unbefriedigende Liebesgeschichte ebenso flüchtig, wie das Bestaunen eines vorbeiflatternden Zitronenfalters.

Sophie Brakemeier