Berlinale 2020: My Salinger Year – Huldigt dem männlichen Genius!

Die Adaption des autobiographischen Romans My Salinger Year von Joanna Smith Rakoff lässt ja bereits im Titel vermuten, dass es hier neben der Heldin der Geschichte auch um einen legendären Schriftsteller, namentlich J.D. Salinger geht. Der Titel verrät jedoch leider nicht, wie wenig Regisseur Philippe Falardeau den Diskurs um den männlichen Genius reflektiert, während er vorgibt, in seinem Film eine weibliche Emanzipationsgeschichte zu erzählen.

Aber von vorne: Die junge Literaturwissenschaftlerin Joanna Rakoff (Margaret Qualley) kommt nach New York und beginnt für die Agentur J.D. Salingers zu arbeiten. Und während sie eigentlich still und leise davon träumt, eigene Gedichte zu verfassen und zu publizieren, arbeitet sich Joanne an ihrer herrschsüchtigen Chefin Margaret (Sigourney Weaver) ebenso ab wie an ihrem Freund Don (Douglas Booth), bis sie sich schließlich von beiden emanzipiert.

Literaturagentin Margaret mit einer Zigarette in der Hand, im Hintergrund sehen wir Joanna an ihrem Vorzimmerschreibtisch.

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Eigentlich ist das eine vielversprechende Grundlage für emanzipatorisch wertvolles Kino, doch leider verschenkt Philippe Falardeau jede einzelne der vielen, vielen Gelegenheiten, seinem Film auch aus feministischer Sicht Relevanz zu verleihen. Sehen wir einmal großzügig über die wenig originelle Figurenaufstellung hinweg – die naive, aufstrebende Angestellte und ihre diabolische Chefin – für die Falardeau ja vermutlich nichts kann. Schauen wir stattdessen darauf, welche Themen der Film selbst platziert, nur um sie dann stiefmütterlich zu Gunsten der mythischen Gestalt J.D. Salingers zu vernachlässigen.

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Da wäre zum einen Joannas Beobachtung, dass es sich bei den Assistentinnen der New Yorker Agenturen nicht nur durchgehend um Frauen, sondern ebenso um verhinderte Schriftstellerinnen handelt. Auch Joannas beste Freundin Jenny (Seána Kerslake) entscheidet schließlich, die eigene Karriere den beruflichen Plänen ihres Verlobten unterzuordnen. Dazu fällt dem Film leider nichts weiter ein, als die Legitimität dieser freien Entscheidung für das Hausfrauendasein zu betonen. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Jennys Weg von New York in die Vorortsexistenz ebnen, bleiben hierbei jedoch ebenso unsichtbar wie die Strukturen einer Literaturwelt, die den männlichen Genius zelebriert, während sie Schriftstellerinnen auf mannigfaltige Weise marginalisiert, präkarisiert und schließlich verstummen lässt.

Da wäre außerdem Don, Joannes Lebensgefährte, dieser im Grunde so trefflich gezeichnete linksorientierte Möchtegernschriftsteller, dem dann in seinem ersten Roman leider doch nichts anderes einfällt als Sexszene an Sexszene zu reihen. Jedwede Verantwortung entweder ignorierend oder an seine Freundin abwälzend, geht er weitgehend sorglos durchs Leben und übersieht dabei, dass es sich auch bei dieser Sorglosigkeit um ein durch strukturelle Ungleichheit zementiertes Privileg handelt. Auch hier genügen dem Film einzelne Andeutungen von Dons Borniertheit, ohne diese in einen größeren gesellschaftlichen Kontext einzubetten beziehungsweise sie über den Einzelfall hinaus als Symptom einer ungleichen Gesellschaft offenzulegen.

Joanna im Büro der Agentur, in der Hand hält sie Leser:innenbriefe

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Und dann wäre da eben noch J.D. Salinger, der zwar weitgehend im Hintergrund agiert, dabei aber mehr Präsenz entfaltet als alle weiblichen Nebenfiguren zusammen. Darin könnte Ironie liegen, schließlich ist es definitiv absurd, dass jegliche Anfragen an den Schriftsteller – seien es Fanbriefe oder berufliche Einladungen – von Joanna mit einem Standardschreiben beantwortet werden müssen. Das Genie darf keinesfalls gestört oder auch nur durch abweichende Meinungen herausgefordert werden, so die Unternehmenspolitik der Agentur. Überhaupt wurzelt J.D. Salingers Mythos zum Zeitpunkt der Filmhandlung nur noch in dessen geheimnisvoller Abwesenheit, denn seit Jahrzehnten hat der Autor keine Zeile mehr veröffentlicht. Kultstatus durch Arroganz – dieses System als solches zu entlarven und vor allem als Privileg männlicher Künstler offenzulegen, versäumt My Salinger Year leider ebenfalls.

Denn Philippe Falardeau interessiert sich spürbar mehr für Salinger als für Joanna Rakoff. Es ist Salinger, den er immer wieder durch Bildsprache und Musikuntermalung mystifiziert. Dabei vollzieht der Regisseur die Perspektive seiner Filmheldin und Erzählerin nur teilweise nach, ist es doch ausgerechnet Joanna, die sich von der Unberührbarkeit Salingers am wenigsten beeindrucken lässt. Der Film huldigt Salinger deutlich mehr als seiner Heldin, bei der es sich aber um keine Geringere als die Autorin der Geschichte selbst handelt! Falardeau macht keinen Hehl daraus, wen er hier für das wahre Genie hält. Nicht zuletzt ist es nämlich Salinger, der den Anstoß zu Rakoffs eigener literarischer Karriere gibt, als könne nur der männliche Genius den weiblichen gebären. Gleichzeitig bleibt dabei Rakoffs eigenes Werk im Film vollkommen unsichtbar. Während wir sie immerhin ab und an ihr Notizbuch mit Lyrik füllen sehen, bekommen wir doch im Laufe des Films kein einziges ihrer Gedichte zu hören. Desinteressierter an der Hauptfigur, einer real existierenden Schriftstellerin und Lyrikerin, könnte der Film nicht sein.

Joanna liest einen Leser:innenbrief

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Seine Konklusion schließlich findet My Salinger Year dann konsequenter Weise auch in jenem vermeintlich entscheidenden Moment, als Joanna erstmalig dem Kultautor persönlich gegenüber tritt – als sei ihr gesamtes Leben nur auf diese Begegnung hinausgelaufen, als sei dies der alles entscheidende Moment, dies der alles entscheidende Mensch. Dass Salinger auch in dieser Szene weitgehend unsichtbar bleibt, ändert nichts an der Überhöhung seiner Person. Auch in Falardeaus Inszenierung gewinnt der Autor gerade durch seine Abwesenheit an Bedeutung. Dem Regisseur gelingt es nicht, diese Form des Personenkults kritisch zu beleuchten, sondern er schreibt sie unreflektiert fort.

Nicht zuletzt ist das Versäumen, die Versatzstücke der in My Salinger Year überdeutlich angebotenen Emanzipationsgeschichte zu einem kohärenten Ganzen zusammenzusetzen, auch jenseits der feministischen Perspektive zu kritisieren. Denn das Verschenken des in der gesellschaftlichen Relevanz schlummernden Potentials, führt leider auch zu einem mittelmäßigen Film. My Salinger Year bleibt auch deshalb wenig erinnerungswürdig, weil er sich nicht traut, den Finger in die Wunde zu legen – in die Wunde des männlichen Geniekults. Vielleicht, so wäre hier zu überlegen, liegt das daran, dass auch hinter diesem Film ein männliches Künstlerego steht…

Sophie Charlotte Rieger
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