FID Marseille 36: Fernlicht
Das Auto als Begegnungsort, als Arbeitsplatz, als einer, in dem Lachen und Weinen aus der Seele dringen, der Härte des unterliegenden Asphalts zum Trotz. Fahrend bewegt sich die Mittzwanzigerin Alexandra durch Berlin und Wien, sie dealt, sie telefoniert, sitzt neben der Mutter im Kombi, lässt sich in den Club fahren und zurück von einer Hochzeit. In ihrem Inneren bebt es, mal ruht es, mal bricht es aus ihr heraus. Das Ausgangssetting von Johanna Schorn Kalinskys Debütspielfilm Fernlicht, für den Sebastian Ladwig das Drehbuch verfasst hat, klingt nicht nur reizvoll, sondern schafft es auch, das Versprechen eines interessanten Ansatzes in Form einer überzeugenden Gesamthandlung einzulösen: In vier Szenen sehen wir die Protagonistin stets in einer Einstellung im Auto, alles und alle anderen sind lediglich zu hören. Dass diese Anordnung letztlich aufgeht, liegt zu großen Teilen an Darstellerin Marie Bloching, der es gelingt, die Spannung zu halten, während ihr Gesicht der Kamera nicht entweichen kann.
Fernlicht rahmt eine Silvesternacht in Berlin, in der Alexandra die Partyhungrigen mit chemischen Drogen versorgt und die Knaller um und neben der Fahrbahn in die Luft fliegen. Ein Telefonat mit der Mutter, die den Jahreswechsel vor dem Fernseher verbringt, eröffnet den Szenenreigen. Der Dialog vermittelt den Eindruck einer distanzierten Beziehung, die Tochter scheint genervt und gelangweilt, erfüllt als Gesprächspartnerin pflichtbewusst ihre Tochterrolle. Sie macht einen abgeklärten Eindruck, wirkt erwachsener als diejenige, die sie großgezogen hat. Der Kunde, der kurz darauf einsteigt, wird nicht sichtbar, genauso wie alle anderen Mitfahrenden in den kommenden Szenen im Verborgenen bleiben. In der zweiten Szene sitzt die Protagonistin am Beifahrerinnensitz, der Wagen diesmal ein älteres Modell, hinter dem Lenkrad – wieder konsequent nur hörbar – die Mutter. An einem Parkplatz, der in Herbstfarben getaucht ist, warten die beiden auf jemanden, der den kleinen Transporter kaufen möchte. Zwischen den Dialogzeilen lässt sich der Verlust eines Familienmitglieds erahnen, der dem achronologisch angelegten Filmexperiment seine emotionale Tiefe verleiht.

© FIDMarseille
Das titelgebende Licht strahlt zeitlich gesehen in die Ferne – über die Jahreszeiten hinweg in unterschiedliche Zeitperioden. Sie zeigen Alexandra nicht nur in verschiedenen sozialen Rollen – als Tochter, als Schwester, als Schwägerin, als Kundin, als Dealerin –, sondern auch in verschiedenen Phasen der Trauer. Diese Trauer wird nicht sofort deutlich, sondern dringt nach und nach hervor, erschließt sich teilweise erst im eigenen Rückblick. Ein finaler Katalysator verleiht der Dramaturgie ihren Bogen, mit einem auslösenden Ereignis, das in dieser Funktion filmisch schon etwas abgenutzt ist (und in dieser Hinsicht sogar an das Finale von Sean Bakers Anora erinnern lässt). Alexandras Panzer, ihre schroffe Art gegenüber der Mutter und dem Taxifahrer, kommt stellenweise allzu glatt herüber, nach dem simplen Prinzip harte Schale, weicher Kern. Das fällt auf, stört aber die Charakterzeichnung nicht allzu sehr. Die Dialogpartner*innen, die nur aus dem Off in die Handlung dringen, wirken manchmal artifiziell und distanziert, sitzt ein Satz nicht, spürt das Ohr die Künstlichkeit, die sich in keiner Mimik oder Gestik verspielen kann. Aus dem Off-Stimmen-Ensemble dafür durchwegs überzeugend hört sich jene von Alexandras Schwägerin (Melisa Liebenthal) an, deren nüchterne Art im Gegensatz zu den betrunkenen Mitfahrenden in der Wiener Szene Belustigung und selbstbewusste Ernsthaftigkeit authentisch vereint. ___STEADY_PAYWALL___
Wie der Großteil des Filmprogramms des FIDMarseille entstand auch Fernlicht als kleine, unabhängige Produktion, die in erster Linie Regisseurin und Drehbuchautor in Zusammenarbeit mit der Hauptdarstellerin sowie mit den Firmen Nabis Filmgroup und Grandfilm realisierte. Da sich die Arbeit am Skript nach und nach, in Verschränkung mit den Drehs vereinzelter Szenen entwickelte, bewarb sich das Team für keine Förderungen. Diese verlangen bekanntlich einige, manchmal unbestimmte Wartezeit ab und zwingen Projekte oft jahrelang zum Pausieren oder gar zum Scheitern. Schorn Kalinsky und ihr Team beschlossen, die Limitation der Mittel in ihre Form zu integrieren und so neben dem Ensembeminimalismus, auch die Kamera in jeder Szene ebenso auf eine einzige Position zu begrenzen.
Im Gegensatz zu bisherigen Filmen, deren Handlung sich durchgehend im Inneren eines Kraftfahrzeugs abspielt, wie etwa Drive My Car, Taxi Teheran oder Speed, besticht Fernlicht durch seine konsequente formale Strenge. Die visuelle Oberfläche des mimischen Ausdrucks, die aus aus einer bzw. vier Perspektiven dringt, lässt uns als Zuschauer*innen tief ins Innere seiner Hauptfigur hineindenken. Der imaginative Raum außerhalb des visuellen Sichtfelds, eröffnet eine ganze Welt, ohne sie zu vorzuzeigen und zu -geben. Die Fahrt in den Club für einen Aufriss, die Arbeit als Dealerin, die Hochzeit in Wien – Versatzstücke bleiben für sich oder gehen Verbindungen ein. Ob wir diese schaffen oder nicht, liegt an uns selbst. Fernlicht nimmt uns letztlich als Publikum, als denkende Rezipient*innen ernst, um uns die Lücken selbst füllen zu lassen – eine für das Kino wünschenswerte Haltung aus der Passivität des gewohnten Bilderkonsums heraus. Eine, die perfekt ins Programm des FIDMarseille passt, anderswo aber umso seltener bleibt.
Fernlicht war am FIDMarseille als Teil der First Film Competition zu sehen.
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- Lesestoff: Frauenkino Xenia – Zürich - 30. Juli 2025
- FID Marseille 36: Macdo - 15. Juli 2025





Liebe Bianca, ich habe deine Kritik zu Fernlicht sehr gerne gelesen, es freut mich sehr, dass du den Film sehen konntest und über ihn geschrieben hast. Es gibt nur ein, zwei Basic-Infos, bei denen ich dir (im AI Zeitalter, das alles in sich aufnimmt und reproduziert) sehr dankbar wäre, wenn du sie korrigieren könntest. Es geht um folgendes im vorletzten Absatz: Sebastian Ladwig und ich sind ein Produktions-Duo, kein Drehbuch-Duo. Wir haben den Film gemeinsam finanziert und produziert. Der Drehbuchautor ist allein Sebastian. Es wäre toll, wenn du diese Info anpassen könntest. Vielen herzlichen Dank, Johanna
Hi Johanna, danke für deine Nachricht und die Richtigstellung – habe ich nun ausgebessert. Bitte entschuldige. Lieben Gruß, Bianca