37. Filmfest Dresden: Der Mehrheitsgesellschaft den Mittelfinger zeigen
Ich habe in letzter Zeit beim Zeitunglesen, Radiohören oder Blueskyscrollen öfters mal geheult – aus Wut und Verzweiflung wegen der Weltlage. Solidarisiert euch! – das diesjährige Motto des Filmfest Dresden hat mir deshalb gut gefallen. Das ist nämlich, was ich mir und meiner Verzweiflung auch sage: Solidarisieren, organisieren, jetzt! Und obwohl es genug Möglichkeiten gibt, aktiv zu werden, fällt mir genau dieser Schritt oft schwer. Es fühlt sich dann doch alles egal an, ich selbst klein und ängstlich und die öffentliche (nach scharf rechts gerückte) Meinung groß und unumkehrbar. Phrasen wie „dieser Film macht Hoffnung“ fühlen sich inzwischen abgenutzt an – was soll ich denn mit Hoffnung? Die reicht doch lange nicht mehr.___STEADY_PAYWALL___

© Filmfest Dresden
In diesem Zwiespalt (aus aktiv werden, aber wie?) bin ich Mitte April nach Dresden gefahren, wo mittlerweile zum 37. Mal Kurzfilme gezeigt, gefeiert und ausgezeichnet wurden. Nachdem ich ein paar Programme gesehen hatte, wunderte ich mich über das Motto. Viele der Figuren und Handlungen kamen mir eher vereinzelt und überhaupt nicht solidarisch vor. War das Motto ein Aufruf an die Filme selbst? Hatte ich noch nicht genug Filme gesehen? Oder war ich einfach zu meckrig? Es ist unbestritten schwierig, so viele verschiedene Filme unter ein Motto zu bringen – in Dresden gibt es einen Internationalen, einen Nationalen und einen Mitteldeutschen Wettbewerb sowie ein Sonderprogramm mit zahlreichen Unterkategorien und ein Kinder- und Jugendprogramm.
Mit etwas Abstand zum Festival entdecke ich jetzt in einigen Filmen eine eigene, unerwartete Form der Solidarität: einen ausgestreckten Mittelfinger in Richtung der nach rechts gerückten Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht weniger hoffnungsvoll, dafür aber sehr heilsam.

© Travelling Distribution, Pierre Brouillette-Hamelin, Filmfest Dresden
Und im Fall von Gender Reveal von Mo Matton sehr unterhaltsam. Rhys (Ayo Tsalithaba) arbeitet in einem nicht genauer definierten, aber definitiv langweiligen Bürojob. Boss Marc (Alexandre Bacon) hat zur GenderReveal-Party seines ungeborenen Babys geladen und da der Haussegen eh etwas schief hängt, schleppt Rhys their Partner*innen Ting (Ke Xin Li) und Mati (Lyraël Alex Dauphin) mit auf die Party. Was Sekt und Fingerfood für umsonst hätte sein können, entpuppt sich schon nach wenigen Minuten als fröhlicher Albtraum heterosexuell-cisgeschlechtlich-binärer Normativität – von der Penis-und-Vulva-Obsession des gesamten Gender-Reveal-Konzepts, über die Performance gleichgeschlechtlicher Glückseligkeit bis hin zu den freundlich-übergriffigen Fragen der werdenden Mutter. All das macht das Ende (wenn gewiss etwas schockierend) umso kathartischer. Ist das, was passiert, Zufall, Schicksal oder göttliche Fügung? Egal – am Ende bekommen alle, was sie verdienen. Ein herzhaftes „Fuck you“ gegenüber dem binären Geschlechtersystem an sich.

© Chetna Vora/Lars Barthel/Hochschule für Film und Fernsehen der DDR 1980
Ein „Ihr könnt mich mal“ muss nicht immer aggressiv und konfrontativ sein. Der Film Oyoyo von der indischen Filmschaffenden Chetna Vora entstand 1980 als Abschlussfilm für die Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg (HFF) und ist ein sehr liebevolles, behutsames und schönes Porträt. Chetna Vora filmt ihre Mitbewohnenden in einem Wohnheim für internationale Studierende in Ost-Berlin. Sie sagt: „Erzähl von zu Hause.“ Und so wird erzählt von Guinea-Bissau, von der Mongolischen Volksrepublik, von Kuba und Chile. Das Außen, das Leben in der DDR als Person of Colour, Rassismuserfahrungen und Ausgrenzungen schwingen immer mit. Gleichzeitig legt Vora ihren Fokus bewusst auf die Gemeinschaft im Wohnheim, auf Musik und Tanz als Ausdruck des Verbunden-Seins und der Solidarität. Dieser Blick ist zärtlich und widerständig zugleich – eine Art künstlerischer Ungehorsam und ein Akt der Solidarität, der auch Vorbild für Aktivismus sein kann.

© Naomi Noir, Filmfest Dresden
Sich widersetzen braucht Energie, die manchmal einfach fehlt. In Mother’s Child erzählt Naomi Noir von Mary, die rund um die Uhr alleine Care-Arbeit leistet. Marys Sohn Murphy hat eine Behinderung und das Gesundheitssystem unterstützt Sohn und Mutter nicht etwa, sondern setzt Mary zusätzlich unter Druck. In Marys Welt ist nichts gefestigt, alles verschwimmt und doch begleitet sie abends eine Nachbarin in den Pub. Dieser Moment der Gemeinsamkeit bleibt, auch wenn Mary an der Bar einschläft und die Welt sich weiter auflöst.

© Dylan Mitro
Etwas außen vor und isoliert ist zunächst die Protagonistin (Nev Robinson) in I’ve Heard a Siren Calling von Dylan Mitro. Von ihrer Wohnung aus beobachtet sie Surfer auf dem See der Kleinstadt. Das Wetter ist nicht klischeehaft sonnig, sondern windig und verregnet, die Wellen nicht azurblau, sondern seetangfarben, schimmernd wie Plastikfolie und eigenwillig-anziehend. Dylan Mitro beschreibt behutsam einen Prozess des Zu-sich-selbst-findens, des Ankommens und sich-Halt-gebens. Am Ende schaut die Protagonistin nicht mehr nur zu, sondern handelt selbst – weil sie es will und weil es ihr Freude bereitet. Auch das ist eine Form von Widerstand.

© Nina Hoffmann, Filmfest Dresden
Möbelhaus Sexy von Nina Hoffmann ist ein kunstvoll ausgestreckter Mittelfinger (oder besser: ein umgedrehtes V-Zeichen) in Richtung normative Mehrheit. Wo kaufen diese merkwürdig-unangepassten, sexy Leute eigentlich ein? Ganz recht – im Möbelhaus Sexy. Ein Film voller hochgradig erotischer Möbelstücke und mit Schlagermusik. Was will mensch mehr?
Am Ende bin ich innerlich gestärkter nach Hause gefahren – movie magic der ganz eigenen Art. Und ich habe gemerkt: Ich persönlich und wir als linker, queerer, feministischer Teil der Gesellschaft brauchen diese Orte und diese Kunst, die uns bestärkt, wachrüttelt und umsorgt. Also solidarisieren wir uns! Sowohl das Filmfest Dresden als auch die Filmlöwin (Abos gibt es schon ab 2,50 Euro im Monat!) freuen sich über und brauchen Unterstützung, jetzt mehr denn je.
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