Sister My Sister
Im Jahr 1933 ereignete sich in Frankreich ein Kriminalfall, der bereits einige Künstler:innen und Denker:innen inspiriert hat: mit dem Kammerspiel-Drama Sister my Sister brachte die bis dato ausschließlich als Theaterregisseurin tätige Nancy Meckler (basierend auf einem Drehbuch von Wendy Kesselman) mit der Verfilmung dieses berühmten Stoffes 1994 einen Klassiker des britischen lesbischen Kinos hervor, der in Deutschland noch nicht auf der Leinwand zu sehen war.
Lea (Jodhi May) fängt im selben Haushalt wie ihre ältere Schwester Christine (Joely Richardson) eine Stelle als Dienstmädchen an. Die wohlhabende Madame Danzard (Julie Walters) stellt ihnen ein gemeinsames Zimmer im obersten Stockwerk zur Verfügung. Hierhin ziehen sie sich zurück, wenn kein Staubkörnchen mehr zu finden ist und die Madame und ihre adoleszente Tochter (Sophie Thursfield) satt sind. Es ist der einzige Ort im Haus, an dem Lea und Christine nicht den Gesetzen der Madame unterliegen, an dem sie Handlungsmacht besitzen. Die gemeinsame Nähe in der Dachkammer lässt die sexuelle Spannung zwischen den Schwestern wachsen. Aus tröstender freundschaftlicher Körperlichkeit entwickeln sich erotische Abenteuer. Im Wohn- und Essbereich des Hauses, unter strenger Beobachtung, bewegen sich Lea und Christine hingegen bedacht, schweigend und voll Ehrfurcht.
An einem Ort und mit vier Darstellerinnen erzählt Sister my Sister mit ruhigen, präzisen Bildern eine verhängnisvolle Geschichte: Der Film eröffnet bereits mit einer langen Kamerafahrt über eine blutüberströmte Treppe. So ahnt das Publikum von Beginn an Übles. Das beengende Zwei-Klassen-Haus isoliert jegliche eskapistische Freuden von Außen und dennoch beherrschen es die sozialen Ungleichheiten und Etiketten, die aus einer Gesellschaft außerhalb des Hauses stammen. Klassenunterschiede sind für die Madame in Stein gemeißelt, sie lassen keine solidarische Beziehung zwischen ihr und den Bediensteten zu; und das anfänglich respektvolle Verhältnis verändert sich im Verlaufe des Films. Während den Schwestern sexuelle Lust die größtmögliche Freude bringt, ist es für die Madame das perfekt gereinigte Haus – bald stehen sich diese Interessen im Wege.
Klar im Zentrum der Geschichte stehen die beiden Schwestern und ihr Traum von der Befreiung aus dem Dienstverhältnis durch ihre Ersparnisse. Auch wenn zu Beginn noch beide Parteien – die Hausbesitzerin und ihre Tochter, sowie die bediensteten Schwestern – einander wohlmeinend gegenübertreten, nimmt Sister my Sister immer wieder die düstere Stimmung der Anfangssequenz auf, die das Zusammenleben der vier Frauen unter schlechte Vorzeichen stellt: Etwa durch stille Passagen, in denen sich die Figuren gegenseitig beobachten und, die nur vom Ticken schwerer Uhren oder dem Klirren einer zerspringenden Vase durchbrochen werden.
Im Kammerspiel Sister my Sister determiniert in erster Linie die Inszenierung von erhobenen und gesenkten Blicken die Situationen und Figurenkonstellationen, der Inhalt der meisten Gespräche ist sekundär. Das Wie verrät mehr als das Was. So beobachtet die Madame ständig die Handgriffe der Dienstfrauen, Christine bemerkt wiederholt Leas lächelnden Blickaustausch mit der Tochter des Hauses und die Blicke der Schwestern untereinander steigern das Verlangen nach gegenseitigen Berührungen.
Der Inzest an sich, den das sexuelle Verhältnis der Schwestern bedeutet, bleibt von den Figuren selbst unkommentiert und problematisch wird es so lange nicht, wie Christine und Lea es vor der Außenwelt geheim halten. Im weiteren Verlauf der Rezeption drängt sich die Frage auf: Kann diese Geschichte gut ausgehen oder kann sie mit den Schwestern in ihrer moralisch diskussionswürdigen Situation nur ein böses Ende nehmen?
Sister my Sister zeigt kein einziges männliches Gesicht, das erinnert an Porträt einer jungen Frau in Flammen. Der potenzielle Heiratspartner der Tochter des Hauses spielt keine entscheidende Rolle für die Geschichte, ein Fotograf ist nur als Off-Stimme Teil des Films. Die vier Darstellerinnen überzeugen nicht zuletzt, da sie ihre Handlungen schwer vorhersehbar werden lassen. Nancy Meckler setzt auf der bild-ästhetischen Ebene spannende Techniken ein, z.B. indem sie (Off-)Ton und Bildspuren unterschiedlich kombiniert und so die Machtverhältnisse zwischen den Figuren immer wieder unter neue (An-)Spannung bringt. Wer wann und wie reden und sich bewegen darf bestimmen die gesellschaftlichen Regeln und das strenge Regiment der Madame. Sister my Sister ist ein sehenswerter, nachdenklich stimmender Film, nicht zuletzt weil er sich einem simplen moralischen Urteil, eindeutigen Empathie-Zuschreibungen, sowie klaren Genreeinordnungen entzieht.
Ab Januar im Rahmen der Queerfilmnacht einen Monat online zu sehen.
Ab 07.01.2021 auf DVD erhältlich.
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