Drei Gedanken zu: Wir beide (Deux)
Der folgende Text ist zuerst als Kurzkritik auf unserem Instagram-Kanal erschienen und ist dementsprechend gestaltet.
Der Kinospielfilm Wir beide (Deux, FR 2019) tritt für die Academy Awards 2021 als französischer Kandidat für den besten internationalen Film an. Der italienische Regisseur und Drehbuchautor Filippo Meneghetti – Mitautorin ist Malysone Bovorasmy – erzählt darin eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen in ihren Siebzigern.
Inhalt
Mado (Martine Chevallier) und Nina (Barbara Sukowa) leben Tür an Tür, ihre Liebesbeziehung halten sie seit langem geheim. Gemeinsam planen sie weg aus Frankreich und nach Rom zu ziehen, um dort einen Neuanfang zu wagen. Allerdings steht Mados Coming-Out vor ihren Kindern noch aus. Als sie jedoch erneut die Chance verpasst, diesen von ihrer lesbischen Beziehung zu erzählen, beginnen sich die Ereignisse kurzerhand zu überschlagen. Ein Schlaganfall verändert ihr Leben.___STEADY_PAYWALL___
Perspektive
Wir beide erzählt sensibel aus der Perspektive der zwei Protagonistinnen. Anfangs noch im Zentrum steht Mado. Die Kamera setzt oft lang und nah ihre Reaktionen in den Fokus – so nah, dass die Umgebung verschwimmt und unwichtig wird. Diese Aufnahmen werden nicht aufdringlich, sondern priorisieren Mados Innenleben. Die Erzählperspektive wechselt nach Mados Schlaganfall zu Nina. Nur ihr gelingt es, mit Mado wieder eine Kommunikation aufzubauen. Bilddramaturgie und -ästhetik zeigen diese Annäherung auf berührende Weise.
Handlungsmacht
Mado und Nina sind zwei Charaktere mit Handlungsmacht. Der Film zeigt sie nicht als Opfer der Gesellschaft oder als sexuell inaktive Rentnerinnen – ein sonst im Kino viel zu populäres Bild – sondern als aktiv und selbstbestimmt. Chevallier und Sukowa überzeugen in der Darstellung ihrer emotionalen Nähe genauso wie in ihren kämpferischen Momenten. Sehr positiv fällt zudem auf, dass auch nach ihrem Schlaganfall Mados Handlungsaktionen für den weiteren Verlauf der Geschichte relevant sind.
Diversität/Besetzung
Negative Kritik gilt dem finalen Konflikt zwischen Nina und der Pflegerin Muriel (Muriel Bénazéraf). Dieser wirkt innerhalb des Gesamtnarrativs aufgesetzt, als hätte auf der dramaturgischen Checkliste des Films „kriminelle subalterne Energien einbauen“ gestanden. Dass die in prekäreren Verhältnissen lebende Muriel als einzige nicht-blonde, nicht-bürgerliche Frau ruppig ist und Konflikte mit Gewalt löst – hier kommt auch noch der Schläger-Sohn ins Spiel – , festigt stereotypes Klassendenken. Wünschenswert wäre gewesen, etwa den Arzt mit einer anderen Person anstelle des weißen, älteren Mannes zu besetzen, um positiv Spielraum in Richtung Diversität zu öffnen.
Fazit
Wir beide ist ein sehenswerter und emanzipatorisch wertvoller Film, der Lust auf mehr macht – mehr Frauen wie Nina und Mado. Er macht Lust, auch Feud: Bette and Joan, Gloria oder Grace and Frankie (noch einmal) genauer anzusehen und auf seine agency und Ageismus-Aspekte hin zu überprüfen. Dass Frankreich mit Wir beide eine queere Liebesgeschichte zwischen zwei älteren Frauen ins Rennen um den Oscar schicken wird, setzt ein gutes Zeichen – nicht zuletzt nach dem Skandal um Polanski ist das auch bitter nötig.
DVD Start: Dezember 2020
deutschsprachige Kinolaufzeit: Sommer 2020
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