Hidden Figures und der Schlüssel des Fortschritts

Fast genau zwei Jahre nach Selma, dem weiblich* dirigierten Bip-Pic über Martin Luther King Jr., und ein Jahr nach Suffragette, verbindet Hidden Figures diese beiden Filme zu einem komplexen Blick auf Diskriminierung und patriarchale Gesellschaftsstrukturen: Vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeichnet Hidden Figures drei Portraits afroamerikanischer Rechenspezialistinnen bei der NASA.

Katherine Johnson (Taraji P. Henson), Dorothy Vaughan (Octavia Spencer) und Mary Jackson (Janelle Monáe) kämpfen jede ihren eigenen Kampf. Von Doppeldiskriminierung betroffen, müssen sich die drei Heldinnen der Geschichte nicht nur als Frauen*, sondern vor allem auch als People of Color gegen rassistische und sexistische Strukturen in ihrem beruflichen wie auch privaten Umfeld durchsetzen.

© 20th Century Fox

Hidden Figures führt dem Kinopublikum eindrucksvoll die erniedrigenden Regeln der US-amerikanischen Rassentrennung vor Augen, ohne seinen Figuren dabei jemals Kraft und Würde zu rauben. Katherine, Dorothy und Mary treten von der ersten Minute an als selbstbewusste Frauen* auf, die proaktiv für ihr Recht auf berufliche Selbstverwirklichung einstehen. Zugleich werden alle drei Heldinnen nicht nur als Wissenschaftlerinnen, sondern auch als Privatpersonen, Ehefrauen und Mütter inszeniert, als komplexe Persönlichkeiten, die so manches Leinwandklischee sprengen. Diese Frauen* können Liebesgeschichten erleben, ohne dass diese ihre berufliche Karriere dramaturgisch in den Hintergrund drängen. Amouröse Subplots sind daher in Hidden Figures genau das: Nebenstränge der Erzählung, die zur Charakterisierung der Hauptfiguren beitragen.

Heldinnen wie Katherine, Dorothy und Mary sind längst überfällig. Sie fungieren als Identifikationsfiguren, die Mädchen* und Frauen* anspornen, ihr Licht niemals unter den Scheffel zu stellen, niemals an den eigenen Fähigkeiten zu zweifeln und jede Hürde in ihrem Weg zu überwinden. Sie motivieren dazu, sich die Entscheidung zwischen Familie und Karriere nicht aufzwingen zu lassen, sondern für Vereinbarkeit zu kämpfen. Und sie erlauben Schwäche, denn all drei Frauen* drohen an der einen oder anderen Stelle zu verzweifeln. Es ist in Ordnung in Anbetracht gläserner Decken und Diskriminierung vorübergehend die Hoffnung zu verlieren. Wir müssen nicht immer stark sein, dürfen Hilfe annehmen und sogar darum bitten. Aber ebenso lohnt es sich, nach Tiefschlägen wieder aufzustehen, so wie auch Katherine, Dorothy und Mary niemals aufgeben.

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Doch Hidden Figures ist viel mehr als nur die Bühne für drei gelungene Frauen*figuren und geht weit über den historischen Blick auf eine vergangene Epoche hinaus. Hidden Figures ist eine scharfe Gegenwartskritik, die dem Kinopublikum vor Augen führen möchte, dass Diskriminierung immer allen Beteiligten schadet: den Diskriminierten ebenso wie den Diskriminierenden.

Im Zentrum der Handlung stehen die Vorbereitungen des ersten bemannten (hier bewusst gewähltes Maskulinum) Flug ins Weltall im Zuge des Wettrüstens und Wettforschens mit der Sowjetunion. Vielmehr als um einen wissenschaftlichen Durchbruch geht es um einen Schwanzvergleich zwischen den Nationen: Wer hat das geilste Ding und dringt als erstes in unbekannte Sphären ein? Lange hinken die USA dabei ihrem Konkurrenten hinterher und die große Wende des Wettbewerbs steht in direktem Zusammenhang mit dem Auftauchen der drei Heldinnen. Es spielt dabei keine Rolle, ob es tatsächlich Katherine Dorothy war, die durch einen Geistesblitz die erste Weltraumreise ermöglichte, denn es geht hier ums Prinzip.

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Es ist eines der am meisten benutzten Argumente gegen die Regie-Quote, dass Qualität statt Geschlecht entscheiden solle. Darin steckt freilich bereits die implizite und vor allem sexistische Annahme, Frauen* machten schlechtere Filme als Männer*. Das ist nicht nur unwahr, sondern auch unlogisch, denn Fakt ist, dass die Quote nicht weniger, sondern mehr Qualität schafft, weil sie talentierte Menschen fördert, die andernfalls ausgeschlossen würden. Oder wie Brenda Lien es einst bei GUT GEBRÜLLT formulierte: „Manche denken, die Quote fördere, dass das Geschlecht stärker ins Gewicht falle als die Qualität der Arbeit. Ich denke aber, dass es genau umgekehrt ist, dass gerade in den jetzigen Strukturen das Geschlecht die Bewertung zu stark beeinflusst.“ Wenn Positionen mit Männern* besetzt werden, weil diesen auf Grund ihres Geschlechts mehr zugetraut wird, dann entscheidet eben das Geschlecht und nicht ein qualitativer Vergleich.

Es ist doch logisch: Wenn ich nicht die cleversten Köpfe, sondern die männlichsten* engagiere, entgehen mir zahlreiche hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Die Sowjetunion als sozialistisches System hatte dieses Problem deutlich weniger und in der Folge gegenüber den Vereinigten Staaten einen Vorteil, der – so erzählt uns der Film – erst dann ausgeglichen werden konnte, als endlich die zuvor ausgeschlossenen Spezialistinnen ins Team geholt wurden.

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Und dasselbe gilt für unsere Zeit: Zwar sind Wissenschaftlerinnen heutzutage deutlich seltener Hidden Figures, anonyme Genies, deren Lorbeeren andere, männliche* Häupter schmücken, sie sind aber immer noch in fast allen Bereichen unterrepräsentiert. Wissenschaft, Industrie, Wirtschaft und auch der Kulturbetrieb tun sich gestern wie heute keinen Gefallen damit, sich an sexistischen Strukturen festzubeißen. Denn so, liebe Leute, kommen wir nicht voran! Wenn so viel Potential ungenutzt bleibt, weil es das falsche Geschlecht, die falsche Hautfarbe, die falsche Religion oder die falsche sexuelle Orientierung hat, ist Fortschritt nicht mehr als eine Utopie.

Kurzum: Wenn Hidden Figures auch erst 2017 ins Kino kommt, ist er mit einem US-Kinostart am 26. Dezember 2016 für mich definitiv der emanzipatorisch wertvollste Blockbuster diesen Jahres. Und ein immens unterhaltsamer noch obendrein.

Kinostart: 2. Februar 2017

Sophie Charlotte Rieger
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