Die Kinder aus Korntal
Irgendwie wissen wir alle von sexualisierter Gewalt in evangelischen und katholischen Kirchengemeinden beziehungsweise ihren Institutionen. Aber es gibt wissen und wissen: Eine Information, die wir lesen oder hören, kurz bewegen und dann in unserem unbewussten Wissensspeicher verstauen. Und das umfassende Wissen, der Weg zum Begreifen, der über große Emotionen führt und sich nicht mehr verdrängen lässt. Es ist dieser zweite Weg, den Julia Charakter uns mit ihrem Dokumentarfilm Die Kinder aus Korntal aufzeigt.
Korntal ist ein kleiner Ort in Baden-Württemberg, vermutlich den wenigsten bekannt. Und doch hat hier einer der größten Missbrauchsskandale der evangelischen Kirche in einer pietistischen Brüdergemeinde und ihren Kinderheimen stattgefunden. Sechs Überlebende kommen in Charakters Film zu Wort. Doch zu behaupten, sie würde ihnen eine Stimme verleihen, ist falsch, denn – das macht einer ihrer Protagonisten gleich zu Beginn des Films klar: Betroffene haben immer eine Stimme, nur wird diese Stimme nicht gehört!
Sechs Geschichten, sechs Personen, sechs Leidens- und Lebenswege erzählen die ehemaligen Kinder von Korntal in nüchtern arrangierten Interviewszenen. Julia Charakter ergänzt diese Sequenzen mit Archivaufnahmen, Animationen und trüb-grauen Bildern Korntals – manchmal aus der Vogelperspektive, manchmal als Straßenpanorama, aber immer beklemmend menschenleer. Die Regisseurin erzeugt damit ein Gefühl der bedrohlichen Isolation, das jene emotionale Erfahrungswelt spiegelt, die die Protagonist*innen in ihren Erzählungen zeichnen. All das geschieht ohne Drama, ohne Interesse an der unbedingten Rührung des Kinopublikums. Die Kinder aus Korntal lädt in erster Linie zum Zuhören ein und zollt den porträtierten Menschen damit jenen Respekt, der ihnen in Vergangenheit und Gegenwart verweigert wurde.
Auch die „Gegenseite“ kommt zu Wort, der aktuelle Priester der Brüdergemeinde sowie Mitglieder der Gemeinde und der mit der Aufklärung der Ereignisse betrauten Kommission. Menschen, die nicht zuhören. Nicht zuhören wollen. Ein guter Wille ist bei vielen erkennbar, ebenso die Hilflosigkeit in Anbetracht der Frage, wie mit einer solch schrecklichen Vergangenheit umzugehen wäre, wie überhaupt Aufklärung, Heilung und Vergebung möglich sein könne. Durch die Montage verbinden Jonas Eckert und Julia Charakter die Interviews mit den Korntaler Pietist*innen mit denen der Betroffenen, ohne dass sich alle im selben Raum aufhalten, und kreieren damit einen Dialog, der in dieser Form nicht stattgefunden hat, aber hätte stattfinden sollen. Die ehemaligen Kinder von Korntal formulieren scheinbar in Reaktion auf die Aussagen der Gemeindepersonen reflektiert und nachvollziehbar, wie für sie ein Aufarbeitungsprozess möglich wäre, was sie brauchen, um vielleicht nicht zu vergeben, aber abschließen und nach vorne schauen zu können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Verantwortliche und Nachkommen von Verantwortlichen derart am Interesse der Betroffenen vorbei agieren können. Es bleibt nur eine Antwort: Sie haben nicht zugehört.
Bis jetzt. Denn mit Die Kinder aus Korntal lädt Julia Charakter ihr Publikum ein, genau das zu tun: Zuzuhören, was Überlebende von bis zu 17 Jahre währender sexualisierter Gewalt sich wünschen und brauchen. Charakter lässt nicht nur ihre Protagonist*innen erzählen, sie spricht selbst einmal als Stimme aus dem Off, vor allem aber durch Bildgestaltung und Montage. Die Kinder aus Korntal hat eine klare Haltung zu seinem Thema und den Figuren, steht auf der Seite der Betroffenen und gegen Machtmissbrauch und Misshandlung, hebt mahnend den Zeigefinger gegenüber jenen, denen es mehr um eine vermeintlich christliche Vergebung als um die Unterstützung der Leidtragenden geht. Damit tut Julia Charakter mehr für die Kinder von Korntal als die sogenannten Aufklärer*innen. Sie stellt die Betroffenen in den Fokus, gibt ihren Geschichten Raum, begegnet ihnen auf Augenhöhe und vor allem: Sie hört zu.
Kinostart: 26. September 2024
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