Hypocrites von Lois Weber
Frauen machen Filme. Frauen machten Filme – schon immer. Auch in Zeiten des Stummfilms. Dass wir nicht mehr allzu oft an Stummfilme denken, über sie schreiben oder sie gar anschauen, mag auf der einen Seite an ihrer Zeitlichkeit liegen. Fragte der erfolgreiche Filmproduzent Harry Warner in den 1930-Jahren noch: „Who the hell wants to hear actors talk?“, so ließ sich der Erfolg der „Talkies“, wie Tonfilme zunächst genannt wurden, nach 1940 nicht mehr aufhalten. Heutzutage sind Stummfilme aus den Kinos größtenteils verschwunden. Auch ältere Werke erfreuen sich nicht unbedingt großer Begeisterung. Wenn Menschen an Stummfilme denken, so denken sie wahrscheinlich höchstens noch an die vermeintlichen Ikonen der Zeit wie Charlie Chaplin oder Buster Keaton. Wahrscheinlich also an Männer. Doch es gab und gibt auch Frauen, die Stummfilme produzierten, Drehbücher schrieben oder Regie führten. Eine von ihnen war Lois Weber.
Lois Weber wurde 1879 in den USA geboren und begann bereits 1910 mit dem Schauspiel, dem Schreiben von Drehbüchern, der Entwicklung von Negativen und ersten Regiearbeiten. Schon ein Jahr später, 1911, spielte sie in ihrem ersten eigenen Kurzfilm mit, für den sie sowohl das Drehbuch schrieb als auch Regie führte. Es folgten weitere produktive Jahre, sodass zum Zeitpunkt ihres Todes im Jahre 1939 über 100 Filme existierten, bei denen sie als Schauspielerin, Drehbuchautorin, Regisseurin oder Produzentin mitgewirkt hatte. Ein beeindruckendes Œuvre, das heutzutage jedoch im Schatten eingangs genannter “Klassiker” steht. Dass sich dies ändern sollte, beweist ihr Film Hypocrites aus dem Jahr 1915:
Die Menschen sind nicht besonders interessiert an der Predigt des Pastors. Sie reden mit ihren Sitznachbar*innen, lesen Zeitung oder himmeln den Pastor selig an. In diese Kirche, die uns Lois Weber in der Eröffnungsszene des Films präsentiert, kommen die Menschen nicht ihres Glaubens wegen. Die Predigt ist langweilig, einzig und allein die gesellschaftlichen Konventionen scheinen die Menschen zum Besuch der Messe bewegt zu haben. Doch Lois Weber rutscht nicht in eine klerikale Perspektive und will ihre Zuschauer*innen auch nicht ob deren Gottesarmut rügen. Sie beschreibt mit dieser Anfangsszene vielmehr den Zustand des Desinteresses, der nicht von irgendwoher zu kommen scheint. Der Pastor wirkt auf uns im Filmpublikum in seiner Theatralik viel zu gewollt, viel zu weit weg von den Menschen. Die Kamera lässt Weber entweder auf den Pastor oder auf die Besucher*innen zu, nie auf alle zusammen blicken. Das Heuchlerische im Filmtitel spielt somit nicht nur auf einen modernen, dem Glauben sich entfernenden Menschen an, sondern auch auf die Rolle der Kirche selbst. Sie bietet den Menschen nichts mehr.
Der nachfolgende Film eröffnet uns in einer Retrospektive den Blick auf den Mönch Gabriel. Dieser schafft zu Zeiten des Mittelalters eine Statue, die er mit der Unterschrift „Truth“ seinen Glaubensbrüdern präsentieren will. Dabei läuft ihm selbst bereits das Blut aus den Augen und wir merken schnell, dass diese Wahrheit nicht allen gefallen wird. Nachdem die Klostergemeinschaft, der Adel und das ganze Dorf versammelt sind, wird das Laken der immer noch verhüllten Statue von den Mönchen gelüftet. Zum Vorschein kommt die Wahrheit: Die Statue einer nackten Frau – den Reaktionen nach zu urteilen, für alle Herumstehenden die größtmögliche Provokation. Das Dorf gerät in Rage und bringt den Mönch Gabriel um, er stirbt als Märtyrer für die Wahrheit. Dieser Märtyrer erscheint nun in einem Traum, in den der Pastor aus der skizzierten Anfangsszene nach der Messe fällt, und zeigt diesem den Weg zur Wahrheit – dargestellt durch eine nackte Frau, die durch die Technik der Doppelbelichtung leicht durchsichtig wirkt. Der Märtyrer Gabriel führt den träumenden Pastor in einer an die Weihnachtsgeschichte nach Dickens erinnernden Manier durch verschiedene Szenen des modernen Lebens. Die Wahrheit, dargestellt durch eine wie ein Geist durch das Bild tanzende Frau, zeigt ihm die “unwahre“ Lebensrealität, in der sich der Mensch der Moderne befindet. Auf die Läuterung folgt der Tod, aber nur für den Pastor, der, als er die Wahrheit gesehen hat, aus seinem Traum aufschreckt und in der Menge der um ihn versammelten Gemeinde stirbt. Was bleibt, ist die Frage, wer hier nun geheuchelt hat?
Lois Weber zeigt in ihrem Film zum ersten Mal in der amerikanischen Filmgeschichte eine nackte Frau in einem nicht pornographischen Film. Ein Skandal, wie sich herausstellen sollte. Der Film selbst nahm die Reaktionen auf ihn vorweg, in New York kam es zu Protesten, in Ohio wurde der Film sogar verboten. Die Nacktszenen wurden auf sehr sensible Art und Weise gedreht. Einzig die Schauspielerin, Weber als Regisseurin und der Kameramann waren hierbei anwesend – eine frühe Form der Intimitätskoordination, wie sie heute in immer mehr Filmen zum Standard wird. Doch die Darstellung der Wahrheit durch eine nackte, nicht-sexualisierte Frau eröffnet weiteren Raum für Deutungen. Zum einen lässt sich hier ein Bezug zur Leibfeindlichkeit der christlichen Religion erkennen, zum anderen zu den Zwängen, denen Frauen damals wie heute ausgesetzt sind.
Die Statue, die zu Anfang in Stein gemeißelt, starr und unbeweglich ist, verlässt nach der Enthüllung ihre vorherbestimmte Position. Die durch die Doppelbelichtung erzeugte Transparenz erzeugt noch mehr das Gefühl von Durchlässigkeit und Flüchtigkeit. In dieser entzieht die Frau sich der Macht des materiell Beherrschenden, sie entzieht sich einer vorher festgelegten Form. Die Wahrheit und damit auch hier die Darstellung der Frau erlebt durch die Befreiung aus den materiellen Zwängen eine Leichtigkeit des Seins, die ihr vorher so nicht vergönnt gewesen war. Lois Weber enthebt die Nacktheit der Frau im Film einer bis dahin zwanghaften Sexualität und überlässt sie ihrer eigenen, wahren Bestimmung: frei von vorgegebenen Formen zu sein.
Lois Webers Filme sind leider nicht vollständig erhalten geblieben. Viele Filme existieren nicht mehr und auch die vorhandenen sind nicht im besten Zustand. Dass damit nicht nur ein Teil der Filmgeschichte verloren gegangen ist, sondern auch das Werk einer vielseitig begabten Filmemacherin, ist mehr als bedauerlich. Umso mehr sollte sich jede*r Filmenthusiast*in daher an dem Werk erfreuen, das die Zeiten überdauert hat. Denn es ist gewinnbringend ohne Zweifel. Ganz echt und gar nicht heuchlerisch.
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Seminars „Film und Feminismus“ an der TU Berlin im Sommersemester 2024 unter der Leitung von Filmlöwin-Gründer*in Sophie Charlotte Rieger.
Über die Gastlöw*in:
Malte Hofmann hat Philosophie und Mathematik in Hamburg studiert und macht nun seinen Master in Mathematik in Berlin. Er hat zwar eine Ausbildung als Synchronsprecher absolviert, seine Bachelorarbeit über Filmästhetik und Ernst Cassirer brachte ihm den Film aber deutlich näher. Im Mathematikstudium ist Film nun leider wieder nur Hobby.