Crossing Europe 2022: Sheroes (À la vie)

Feminismus als Teil ihrer eigenen Identität zu betrachten und die Bedeutung von Schwesternschaft zu erkennen, das habe ihr ihre Hebamme Chantal Birman mitgegeben, erklärt eine Frau deutlich bestärkt in Sheroes. Als Feministin der ersten Stunde engagiert sich Birman seit den 1970ern für das Recht auf Abtreibung und die Position der Hebammen in der französischen Gesellschaft und dem Gesundheitssystem. De facto sind Frauen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus mit ihrem Neugeborenen schnell auf sich allein gestellt. Postpartum-Blues bzw. Wochenbettdepression, wunde Brustwarzen, Schlaflosigkeit und Angst: Die 70-jährige Birman versucht nicht nur die physischen Schmerzen von Müttern und ihren Neugeborenen zu behandeln, sondern führt in ihren Heimbesuchen verständnisvolle Gespräche, gibt Ratschläge, teilt ihren Erfahrungsschatz und bestärkt ihr Gegenüber.

© Crossing Europe

Die Journalistin und Schauspielerin Aude Pépin widmet ihren Debütfilm Sheroes einer Frau, deren Rolle für den Feminismus in Frankreich wesentlich ist, unerschöpflich kämpft sie seit Jahrzehnten für bessere Konditionen für Hebammen, Schwangere und Gebärende. Birman gründete eine nationale Vereinigung für Hebammen, ist Vizepräsidentin der Nationalen Vereinigung der Zentren für Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung und wurde mit dem französischen Verdienstorden Légion d’honneur ausgezeichnet. „Zwischen Leben und Tod wählen Frauen immer die Freiheit“, lautet ein Zitat, mit dem sich Birman auf die Gefahren, die mangelnde Gesundheitsvorsorge, Abhängigkeitsverhältnisse und illegale Abtreibungen bezieht. In Sheroes sehen wir, wie sie einer Klasse auszubildender Hebammen ihr Wissen und ihre Erfahrungen ebenso wie einer jungen Kollegin, die sie auf den Hausbesuchen begleitet, weitergibt. Die Kamera bleibt in den Dialogen meist lange bei einer der Gesprächspartnerinnen verweilen, sodass wir das Gefühl haben, an den Situationen teilzuhaben, die Birman sensibel handhabt. Dabei stellt sie sich nie über ihre jüngeren Kolleginnen, betont stets die Bereicherung voneinander zu lernen und im Dialog neue Perspektiven einnehmen zu können.

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Aude Pépin begleitet ihre Protagonistin v.a. bei ihren Hausbesuchen, ihren Rollkoffer schleppt Birman durch alte Pariser Treppenhäuser und beschwert sich dabei keine Sekunde oder verliert den Mut in schwierigen Situationen. Vielmehr verkörpert sie einen Fels in der Brandung, für jede Lage hat sie aufmunternde Worte und bestärkt die Mütter dabei, ihre Probleme mit anfänglicher Anleitung und nachhaltigem Durchhaltevermögen selbst lösen zu können. Die Milchdrüsen müsse sie regelmäßig und konsequent massieren, damit ihr Körper mehr Milch zum Stillen herstellen könne, rät sie einer Mutter bestimmt. Einer andere instruiert sie, wie sie ihrem Neugeborenen beibringe zu saugen, auch das will erst erlernt sein – im Krankenhaus kaum Zeit, kein Thema. Eine andere zweifelt, ob sie aufhören solle zu stillen, wenig Milch trägt sie in ihrer Brust, gleichzeitig möchte sie durch die viele Zeit und Aufmerksamkeit auf das jüngere Kind nicht das Ältere zu sehr vernachlässigen. Birman leitet sie in einem Gespräch zu der Erkenntnis, dass ein Aufhören des Stillens nicht mit ihrem eigenen Scheitern einhergehe, sondern ihre bewusste Entscheidung dagegen genauso eine Berechtigung habe.

Welche Bedeutung trägt die Verlagerung der Geburt aus dem eigenen Heim in ein institutionalisiertes Gebäude, das für Gebärende zwar sterile Instrumente bereithält, auf deren Individualität jedoch nicht eingehen kann? In einer Station kommen in Frankreich als unmittelbare Folge von Einsparungsmaßnahmen im Gesundheitswesen auf zwei oder drei Hebammen zwölf Gebärende. Wo beginnt und endet hier der sogenannte Fortschritt unserer postindustriellen Gesellschaft? Nach der Entlassung können ein paar Hausbesuche in Anspruch genommen werden – das hängt von jeweiligen Bestimmungen ab, kaum aber vom individuellen Bedarf nach anschließender Hilfe. Birman berichtet, dass die Dunkelziffer der Suizide nach einer Geburt hoch ist: ein Tabuthema. Was wäre ohne Hebammen wie Birman, die zusätzlich zu ihren Diensten an Wochenenden ehrenamtlich von A nach B durch die Straßen von Paris auf Hausbesuche fährt? In Sheroes wird die Dringlichkeit und Relevanz jener Fragenkomplexe deutlich.

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Mit Sheroes bringt Regisseurin Pépin ihren Zuseher:innen außerdem nicht nur die Arbeitsweise von Birman nahe, sondern gibt auch einen Eindruck von der Ausstrahlung, Energie und Lebenseinstellung, die die Aktivistin mit sich trägt. Als Janis Joplin durch die Musikboxen dringt, singt Birman voll Emphase mit und ebenso wie Joplins kraftvoller Gesang sie heute noch begeistert, so dauert auch ihr Kampfgeist seit den 1970ern weiter an. Auch wenn Aude Pépin ihre Protagonistin durch die Straßen begleitet, knüpft Sheroes an die Musikstimmung an und erzeugt so stets eine melancholisch und zugleich elevierende Atmosphäre. Mit ihren Kolleginnen zieht die Hebamme auf Demonstrationen mit, verteidigt das Recht auf Abtreibung und fordert mehr Rechte für die Selbstbestimmung des Körpers ein. Über die Rolle der Hebamme bei der Durchführung einer Abtreibung, was in Frankreich mit dem Jahr 2016 ermöglicht und Anfang diesen Jahres ausgeweitet wurde, diskutiert Birman mit einer jüngeren Kollegin und auch ihre eigene Erfahrung mit dem Abbruch einer Schwangerschaft reflektiert sie mit einer langen Weggefährtin. Wie wichtig es ist Erfahrungswerte auszutauschen, auch deine erzählt Sheroes. Daran, dass gegenwärtig erneut Frauen für bereits erkämpfte Selbstbestimmungsrechte auf die Straßen gehen müssen, wie in den USA und Polen, erinnert uns Birman ebenso. Erschreckend aktuell zeigt sich der Kampf um Abtreibung gegenwärtig.

Aude Pépin, selbst Mutter, fängt intime Momente in den Heimen einer Reihe von Müttern ein und macht mit ihrem Film einmal mehr deutlich, welch weiten Weg unsere Gesellschaft immer noch vor sich hat: das Wissen um Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge bleibt für viele Menschen bis zur eigenen Erfahrung zu großen Teilen im Dunkeln. Gefahren und Probleme werden tabuisiert, das Kinderkriegen als oberste Quelle der Freude im Leben einer Frau romantisiert. Eine Frau wird erst zur Mutter, sie muss ihr Baby ja selbst erst kennenlernen, nichts ist selbstverständlich, so Birman. Genauso wenig selbstverständlich ist Birmans solidarischer Einsatz, mit dem sie nicht nur feministische Forderungen erkämpft, sondern diese auch aktiv lebt. Chapeau für diese Heldin!

 

 

Bianca Jasmina Rauch
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