Berlinale 2024: Une famille

CN: Sexualisierte Gewalt, Inzest

„A camera is something that accompanies, supports, sees the same thing as oneself”, sagt Christine Angot auf die Frage, weshalb sie nach Jahren der Schriftstellerei nun mit Une famille einen autobiografischen Dokumentarfilm vorlegt, nach zahlreichen Büchern, in denen sie unter anderem die Inzestverbrechen ihres Vaters verarbeitet, diese Erlebnisse nun auch auf der Leinwand thematisiert. Der Satz fügt sich nahtlos in den Anfang ihres Films, wenn Christine die Ehefrau ihres Vaters besucht und darauf besteht, von ihrer Filmcrew begleitet zu werden. Sie möchte Beistand, sie will nicht alleine stehen, sie möchte, dass andere sehen und hören, was sie sieht.

Es ist fester Bestandteil unserer Vergewaltigungskultur, dass betroffenen Personen nicht geglaubt, dass ihre Erlebnisse entweder geleugnet oder verharmlost werden. Und so war auch Christine Angot mit ihrem autobiografischen Roman Inzest respektlosen und immens verletzenden Anfeindungen ausgesetzt, von denen sie eine auch beispielhaft in Une famille einbettet. Doch wie der Titel des Films verrät, geht es Angot nur am Rande um die Reaktion der Öffentlichkeit. Une famille ist der schmerzhafte Versuch der Konfrontation mit jenen Menschen, die der Regisseurin am nächsten stehen und die auf unterschiedliche Weise einen Teil ihres Traumas bilden. Es ist der Versuch, Dialoge über das Unaussprechliche zu führen, gesehen und gehört zu werden, aus der Einsamkeit und Isolation ihrer Erinnerungen auszubrechen.

Die erwachsene Christine Angot, vertrauensvoll angelehnt an einen etwas größeren Mann. Von beiden sehen wir den Kopf und einen Teil des Oberkörpers. Christine blickt leicht nach unten, der Mann rechts aus dem Bild heraus. Im Hintergrund deutet sich eine nächtliche städtische Straßenszenerie an.

© Le Bureau Films, Rectangle Productions, France 2 Cinéma

Dabei macht Christine Angot den Prozess ihres Films transparent, spricht die Menschen hinter den Kameras immer wieder persönlich an und macht sie damit allermindestens auf der akustischen Ebene zum Teil dieses Films. Die Kamera führt sich nicht alleine, so wie auch ein Roman sich nicht von alleine schreibt. Es sind immer Menschen, die Geschichten erzählen. Und dieser sehr persönliche und intime Anteil ist nicht zuletzt durch Angots wiederholte Auftritte vor der Kamera in Une famille omnipräsent.

Neben den Interviews, die sie mit der Frau ihres Vaters, ihrer Mutter, Claude, dem Vater ihrer Tochter Leonore, und Leonore selbst führt, verwendet Christine Angot in ihrem Film auch alte Videoaufnahmen, größtenteils Aufnahmen von ihrer etwa zweijährigen Tochter, viele davon zärtliche Mutter-Kind-Momente. Diese Aufnahmen bauen nicht nur die Brücke zu dem intergenerationalen Trauma, das sich am Ende von Une famille konkretisiert. Sie gehen tiefer, repräsentieren in der Verletzlichkeit des kleinen Kindes die Verletzlichkeit der erwachsenen Filmemacherin, illustrieren den Moment, in dem wir im Spiegel unser Kinder unsere eigene naive Unversehrtheit erinnern und ihren Verlust betrauern.

Die erwachsene Christine Angot mit Sonnenbrille, neben ihr ihre erwachsene Tochter Leonore. Christine zeigt aus dem Bild heraus, Leonore folgt mit dem Blick dieser Richtung. Im Hintergrund eine Bucht.

© Le Bureau Films, Rectangle Productions, France 2 Cinéma

Immer wieder betont Christine Angot in den Gesprächen mit ihrer Familie, dass ihre Geschichte die Geschichte all dieser Menschen ist, doch es ist ausschließlich ihre Tochter, die diese Idee wahrhaft begreifen und in eigene Worte packen kann. Dem heilsamen Dialog mit ihr gehen mit den übrigen Interviews vor allem Momente der Sprachlosigkeit voraus, einem schmerzhaften Slalom um den Inzest, der zwar immer unmissverständlich als Thema etabliert ist und doch meistens unausgesprochen bleibt. Une famille zeigt, dass es vor allem diese Sprachlosigkeit ist, die Betroffene isoliert

Die Verletzung des über Jahre währenden Inzest durch den Vater an Christine Angot ist jetzt Teil ihrer Familiengeschichte und wird es immer sein. Angot wirkt nicht, als würde sie mit dieser Tatsache hadern. Im Gegenteil scheint sie den Inzest durch die mit der Kamera bezeugte Konfrontation der Beteiligten als solchen klar benannt und unbestreitbar in ihre Familiengeschichte einschreiben zu wollen.

Damit ist Une famille ein Weg aus der Sprachlosigkeit. Die Kamera ist zugleich Angots Zeugin wie auch ihre Komplizin, lässt andere Menschen sehen und hören, was die Filmemacherin in diesem Prozess der Aufarbeitung erfährt. Damit konfrontiert Une famille das Kinopublikum auch mit seiner eigenen Sprachlosigkeit. Sexualisierte Gewalt im allgemeinen und Inzest im Besonderen als omnipräsenter Teil unserer gesellschaftlichen Realität gehen uns alle an. Christine Angots Geschichte ist nicht nur die ihrer Familie, sondern die von uns allen, und es ist auch unsere Aufgabe, für sie eine Sprache zu finden.

Sophie Charlotte Rieger
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