Berlinale 2019: Varda by Agnès

von Sophie Charlotte Rieger

Bei der Berlinale gab es noch nie eine Retrospektive über eine Regisseurin und das trifft vermutlich auf die meisten großen Festivals zu. So ist es nur konsequent und vor allem sehr weise, dass Agnès Varda mit ihrem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag 2019 die Sache selbst in die Hand nimmt: Vardas by Agnès ist quasi eine autobiographische Retrospektive, mit der die französische Filmemacherin, Fotografin und Künstlerin auf etwa 60 Jahre ihres Schaffens zurückblickt.

© Cine Tamaris 2018

Varda erzählt mit ihrer eigenen Stimme ihre eigene Geschichte und vollzieht allein hiermit bereits einen emanzipatorischen Akt. Sie wählt selbst, welche Teile ihres Lebens und Werkes sie präsentiert und – Wunder oh Wunder – Liebesgeschichten spielen in Vardas by Agnès im Gegensatz zu so ziemlich jedem „fremdbestimmten“ Künstlerinnenportrait keine Rolle. Auch verknüpft die Regisseurin die Stationen ihres Werks nur teilweise chronologisch, stellt lieber thematische und assoziative Verbindungen zwischen den Epochen und Filmen her. So liegt auch die dramaturgische Macht, also das „wie“ des Erzählens, vollständig in ihrer Hand.

Die Collage, die Agnès Varda hier mit ihrer filmischen Autobiographie erschafft, besteht aus Vorträgen und Interviewsituationen ebenso wie aus zahlreichen Filmausschnitten sowie Fotos und Aufnahmen ihrer Ausstellungen. Dabei fließen die einzelnen Elemente immer wieder einander, so wie sich auch Vardas Werk durch die fluide Verbindung von Fiktion und Dokumentation auszeichnet. Die vorgestellte Fülle an Material, insbesondere die zum Teil detailliert kommentierten Filmausschnitte, machen neugierig. Wer noch nie einen Film von Agnès Varda gesehen hat, wird es spätestens nach diesem Dokumentarfilm unbedingt tun wollen. Oder gleich eine ganze Retrospektive programmieren.

© Cine Tamaris 2018

Dabei ist Vardas by Agnès erfrischend frei von Narzissmus. Die inzwischen schon legendäre Regisseurin spricht weder von Preisen und anderen Auszeichnungen noch betont sie die Hürden der brotlosen Kunst. Statt sich und ihre Leistungen zu erhöhen, bleibt sie mit ihrem Publikum auf Augenhöhe und präsentiert sich vor allem als Mensch mit authentischer Freude am kreativen Schaffensprozess. Über 90 Jahre alt und auf ein umfassendes Oeuvre zurückblickend, wirkt Agnès Varda immer noch bodenständig und demütig. Verschmitzte Kommentare und verspielte Inszenierungen verleihen ihrem Film immer wieder sympathische Schmunzelmomente. Mensch muss sie einfach lieben, diese kleine Frau* mit der zweifarbigen Topffrisur. Und das Geheimnis ihrer Liebenswürdigkeit ist ohne Frage die Eigenschaft, sich und ihre Kunst nicht über die Maßen ernst zu nehmen, sondern dem Leben und der Kreativität mit verspielter Neugier zu begegnen.

Und so kommt es auch, dass Agnès Varda im Gegensatz zu vielen Kollegen (generisches Maskulinum bewusst gewählt) die Verdrängung des 35mm-Films zu Gunsten von Video nicht mit einem Abgesang an die Kinokultur kommentiert, sondern das neue Medium als Chance umarmt, als Einladung zum Spiel, als Entdeckungsreise einer neuen Art des Filmemachens. Damit bricht sie mit dem Bild des über allem schwebenden männlichen* künstlerischen Genius, der die nachwachsende Generationen nur für ihre Spielereien belächeln kann, während ER selbst doch die Weisheit über Kunst und Nicht-Kunst gepachtet hat, mit großen Fremdworten den Abschied vom Filmmaterial als dem einzig wahren Medium ebenso bedauert wie Netflix-Produktionen und dessen jünger jeden seine Filme noch vor der Uraufführung als Meilenstein der Filmgeschichte preisen.

© Cine Tamaris 2018

Währenddessen leuchten Vardas Augen, wenn sie darüber berichtet, wie die Videokamera ihr intimere Portraits ermöglicht, und in ihrem verschmitzten Lächeln blitzt das ewige Kind durch, das sich am Leben nicht sattsehen kann. „Nichts ist banal, wenn Du es mit Liebe filmst“, ist die Devise, mit der sie immer wieder die Schönheit in der Alltäglichkeit sichtbar macht.

Doch so faszinierend auch Vardas künstlerisches Schaffen und ihre Person, so lang gestaltet sich ihre knapp zweistündige filmische Autobiographie. Trotz der wohlkomponierten Dramaturgie, zieht sich der Film im letzten Drittel spürbar in die Länge. Und so ist Varda by Agnès vor allem ein Film für besonders cinephile Menschen beziehungsweise leidenschaftliche Fans der Filmemacherin, die jeden den Blick hinter die Kulisse und jeden Meta-Kommentar der Künstlerin aufsaugen.

Inspiration, Kreation, Teilen – das sind, wie Agnès Varda selbst sagt, die drei Pfeiler ihrer Kunst, die also nicht der reinen Selbstverwirklichung, sondern vor allem auch der Kommunikation mit dem Publikum dient. Und Vardas by Agnès ist genau das: Ein Sich-Mitteilen und eine herzliche Einladung ihre künstlerische Welt – eine Einladung, die nach diesem Film im Grunde keine_r mehr ausschlagen kann.

Screenings bei der Berlinale 2019

Sophie Charlotte Rieger
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