Berlinale 2018: Jibril
Liebe wächst mit der Zeit. Sie ist nicht einfach da. So sieht das zumindest Maryams Mutter. Maryam (Susanna Abdulmajid) ist da anderer Meinung. Wahre Liebe ist eben nicht rational zu erklären, hängt nicht davon ab, ob jemand eine gute Partie sei. Und schon gar nicht geht es darum, einen guten „Versorger“ zu finden. Alleinerziehend mit drei Töchtern und berufstätig kann die junge Frau* ihren Alltag prächtig ohne männliche* Unterstützung stemmen.
Doch dann verliebt sich Maryam ausgerechnet in den Häftling Jibril (Malik Adan), der noch mehrere Jahre hinter Gittern sitzen wird. Gerade aus der Unmöglichkeit sich nahe zu sein, scheint eine besondere Romantik zwischen den beiden zu entstehen. Aber reicht diese Liebe aus, um im wahrsten Sinne des Wortes Mauern zu überwinden?
Regisseurin Henrika Kull und ihre Kamerafrau Carolina Steinbrecher sind den Figuren stets auffällig nah. Der Hintergrund verschwimmt nicht nur im übertragenen, sondern auch im tatsächlichen Sinne, wenn das Kinopublikum mit Maryam in ihr eigenes Universum abtaucht. Zunächst bleibt die Erzählperspektive der weiblichen* Hauptfigur treu, doch mit dem Fortschreiten der Romanze mehren sich die Szenen innerhalb der Gefängnismauern, so dass wir auch Jibrils Sicht der Dinge erleben können. Auch hier dominieren Close-Ups die Bildsprache. Die Figuren und ihre Emotionen sind stets wichtiger als ihre Umgebung und das natürliche Spiel der Darsteller_innen erzeugt große Nähe zwischen den Leinwandcharakteren und ihrem Publikum. Alles wirkt echt, greifbar, spürbar.
Dabei bricht Henrika Kull gleich mehrfach mit filmischen (und gesellschaftlichen) Stereotypen. Maryam und ihre beste Freundin sind selbstbewusste und unabhängige arabische Frauen* – die eine mit, die andere ohne Kopftuch. Ihr Deutsch ist akzentfrei, der Lebenswandel selbstbestimmt und dabei stets verbunden mit der arabischen Kultur und Sprache. Die Männer* an ihrer Seite sind keine Abziehbilder. Maryams Ex, dem in diesem Film kein Auftritt vergönnt ist, wird als unangenehmer Patriarch charakterisiert. Der Mann* der anderen hingegen unterstützt die Unabhängigkeit seiner Ehefrau* und findet durch sie eine ausnehmend positive Beschreibung.
Dieses differenzierte Männer*bild wird durch Jibril erweitert, der als empfindsamer und zuweilen schwacher Mensch auftritt. Maryam ist zu jedem Zeitpunkt die stärkere Partei in dieser Beziehung, weshalb insbesondere im letzten Drittel des Films ihre Faszination für den Mann* hinter Gittern immer schwerer nachzuvollziehen ist.
Durch die große Nähe zur Figur gelingt es Henrika Kull zu Beginn, uns die aufflammende Liebe Maryams zu Jibril fühlen zu lassen. Die intensiven Blicke bei den Besuchen, das sehnsuchtsvolle Warten auf heimliche Textnachrichten, die überschäumende Freude bei den kurzen Telefonanrufen. Dass diese Romanze ihre Intensität aus dem Abenteuer bezieht, ist uns ebenso klar wie verständlich. Doch dann wendet sich das Blatt. Jibril gerät hinter Gittern in eine Krise, die mit seiner Freundin zu teilen, ein von Stärke geprägtes Männlichkeits*ideal verbietet. Sowohl Maryam als auch uns als Zuschauer_innen stellt sich spätestens jetzt die Frage, ob die Beziehung der beiden wirklich eine Zukunft hat.
Es ist dieser Moment, an dem die Nähe zwischen Kinopublikum und Heldin zu bröckeln beginnt. Das Konzept irrationaler Romantik, das sich Maryam aus ihren geliebten arabischen Soap Operas abgeschaut hat, kollidiert mit der Realität. Doch was wichtiger ist, Romantik oder Realismus, mag uns Henrika Kull nicht verraten und überlässt es ihren Zuschauer_innen, darauf eine eigene Antwort zu finden. Und so ist das Ende dieser Geschichte weder haarsträubend kitschig noch ernüchternd noch sonderlich empowernd, sondern schlicht authentisch. Denn so einfach, schwarz und weiß, ist das Leben eben nicht. So unbefriedigend das auch sein mag.
JIBRIL Trailer from Henrika Kull on Vimeo.
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