Berlinale 2018: Las herederas
Vor gut zehn Jahren unternahm ich eine Studienreise in die USA, im Zuge derer ich verschiedene NGOs besuchte – darunter auch eine, der es um weibliches* Empowerment ging. Dort wurde ich gefragt, welches Land meiner Meinung nach den größten Frauen*anteil in der Regierung hätte. Ich antwortet: Schweden. Tatsächlich war es aber Ruanda. Warum? Weil so viele Männer* im Zuge des Bürger_innenkriegs gestorben waren, dass die Frauen* zur Regierungsbildung dringend gebraucht wurden. Ähnlich verhielt es sich auch während und kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Frauen* in den beteiligten Ländern vermehrt in die Berufswelt eintraten. Aus eigener ökonomischer Not, aber auch, weil es durch die Abwesenheit der Männer* Raum für Frauen* gab.
Emanzipation entsteht also unter anderem immer dort, wo sich ein Aktionsraum auftut, der zuvor nicht vorhanden war. Und genau darum geht es auch im Berlinale Wettbewerbsfilm Las herederas von Marcelo Martenessi. Als ihre Lebensgefährtin ins Gefängnis muss, ist Chela (Ana Brun) größtenteils auf sich allein gestellt. Zwar gibt es noch die Haushaltshilfe Pati (Nilda Gonzalez) die der einst wohlhabenden Tochter aus gutem Hause zur Hand geht, doch einen Teil ihres Lebens muss Chela nun ungewohnter Weise allein bestreiten.
Der Titel Las herederas, die Erbinnen, bezieht sich hier auf eine bourgeoise Schicht der paraguayischen Gesellschaft, die nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch familiäres Vermögen zu ihrem aktuellen Lebensstandard gekommen ist. Chela hat, so scheint es, niemals einen Beruf ausgeübt. In die Geschichte wird sie als in sich gekehrte, depressive Hobby-Künstlerin eingeführt, die über den Griff zum Pinsel hinaus keinen Finger rührt. Sie kann zwar Auto fahren, besitzt aber keinen Führerschein und ist somit in nahezu allen Belangen von anderen Menschen, vornehmlich ihrer Partnerin Chiquita (Margarita Irun), abhängig. Durch deren Straftat jedoch ist das Paar in eine finanzielle Notlage geraten und Chela daher nun gezwungen, große Teile ihres Besitzes zu verkaufen und sich damit nicht zuletzt auch von einem lieb gewonnenen Lebensstandard zu verabschieden.
Als die Nachbarin Pituca (María Martins) Chela darum bittet, sie mit dem Auto zu einer Verabredung zu fahren, stimmt die unfreiwillige Strohwitwe vor allem aus Höflichkeit zu. Unsicher und nervös bringt sie die alte, gut betuchte Dame zu ihrem Ziel und erhält dafür als Dank einen kleinen Obolus. Zunächst akzeptiert Chela diese Bezahlung nur unwillig, doch aus der symbolischen Geste wird bald ein tatsächlicher Lohn, als die Geschichte des Frauen*taxis im Bekanntenkreis die Runde macht.
Vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben verdient Chela durch Arbeit ihr eigenes Geld und entdeckt die damit verbundene Unabhängigkeit und Selbstermächtigung. Als Zuschauer_innen können wir nun erleben, wie die Heldin sichtlich erblüht, die traurige, introvertierte Mimik immer mehr einem zarten Lächeln Platz macht, die geduckte Körperhaltung sich aufrichtet und eine zunächst unscheinbare Person mehr und mehr Präsenz entfaltet.
Las herederas ist also in erster Linie eine Geschichte über Emanzipation. Indem Marcelo Martenessi eine lesbische Beziehung erzählt, vermeidet er dabei geschickt geschlechterstereotype Zuschreibungen. Chela ist keine abhängige Persönlichkeit, weil sie eine Frau* ist, und Chiquita fällt nicht auf Grund ihres Geschlechts übergriffige Entscheidungen für die Partnerin. Somit formuliert Las herederas auch keine Anklage gegen sexistische Strukturen und schon gar nicht gegen Männer*, die hier schlichtweg abwesend sind. Die Heldin kämpft nicht gegen, sondern für etwas. Und doch vermag der Film selbstredend etwas über patriarchale Strukturen auszusagen, darüber wie als Fürsorge getarnte Kontrolle der Selbstermächtigung von Individuen im Weg steht – eine Aussage, die sich auf jedes Machtungleichgewicht übertragen lässt.
Indem diese Botschaft mittels eines homosexuellen Frauen*paares vermittelt wird, bietet Las herederas weniger Angriffsfläche für maskulinistische Beißreflexe. Niemand sitzt hier auf der Anklagebank der Verteidigungsposition. Niemand muss durch Whataboutism auf die eigenen Probleme aufmerksam machen. In dem subtilen Kniff der gleichgeschlechtlichen Figurenaufstellung steckt das große Potential, von patriarchalen Strukturen zu erzählen, ohne sich in Grundsatzdiskussionen über sexistische Zuordnungen zu verlieren.
Einzig die Figur der Haushaltshilfe bildet in diesem Kontext einen veritablen Wermutstropfen, denn obwohl die Themen Wohlstand und Klasse eine zentrale Rolle spielen, bleibt Pati innerhalb der Geschichte auffällig marginalisiert und erhält keinerlei Gelegenheit für eine eigene Emanzipation. Vielmehr scheint es, als wäre Selbstermächtigung ausschließlich ein Thema weißer Frauen*, ohne dass dieses Privileg durch den Film als solches kritisch reflektiert würde. Was die Intersektionalität des feministischen Subtexts angeht, lässt Marcelo Martenessi also deutlich Luft nach oben. Für die glaubwürdige und durchdachte Erzählung von weiblichem* Empowerment erhält Las herederas von mir dennoch das Prädikat „emanzipatorisch wertvoll“.
Termine auf der Berlinale 2018
- Irene von Alberti über Die geschützten Männer - 11. Dezember 2024
- Interview: Elizabeth Sankey über Witches - 25. November 2024
- FFHH 2024: Blindgänger - 2. Oktober 2024
[…] Das behutsam erzählte Debüt, das 2018 seine Weltpremiere auf der Berlinale feierte und dort auch prämiert wurde, ist nur noch wenige Tage (bis 23.02.2021) in der Arte Mediathek oder diesen Link verfügbar (deutsch synchronisiert). Wer noch ein bisschen mehr zum Film, patriarchale Strukturen und Intersektionalität lesen möchte, wird bei Filmlöwin fündig. […]