Berlinale 2018: Rückenwind von vorn
„Wie macht der das?“ Diese Frage ging mir während Rückenwind von vorn immer wieder durch den Kopf. Mit „der“ ist Regisseur Philipp Eichholtz (Luca tanzt leise) gemeint und mit „das“ die feinfühlige und glaubwürdige Darstellung weiblicher* Lebenswelten. Irgendwann möchte ich Philipp Eichholtz mal genau diese Fragen stellen, aber erst einmal geht es um seinen neuen Film, der in der Perspektive Deutsches Kino bei der Berlinale 2018 seine Premiere feiert.
Im Zentrum der Geschichte steht – wer die Filmographie von Eichholtz kennt, ist nicht überrascht – eine Frau*. Charly (Victoria Schulz), vermutlich so um die 30, passionierte Grundschullehrerin und seit fünf Jahren in einer festen Beziehung mit Marco (Aleksandar Radenkovic). Der möchte gerne ein Kind, Charly nicht, aber das traut sie sich nicht zu sagen. Also nimmt sie heimlich weiter die Pille und grummelt ihre Unzufriedenheit in sich hinein. Statt sesshaft zu werden und Familie zu gründen, will sie viel lieber nach Korea und sich dort mit ihrer besten Freundin treffen, die gerade durch Südostasien reist.
Charly erinnerte mich ein wenig an die Figur der Anna aus Die Hannas und an Heinz aus Zwei im falschen Film, denn in den beiden Filmen sind die Beziehungsrollen ähnlich verteilt wie in Rückenwind von vorn. Wo die Frau* etwas erleben will – Charly in Korea, Anna in Mexiko, Heinz einfach irgendwo am Meer und in der Sonne – möchten die Männer* lieber ihre Ruhe – Marco in Berlin, Hans aus Die Hannas in der Datsche an der Ostsee und Martin aus Zwei im falschen Film in seinem Copyshop. Irgendetwas muss also dran sein an diesem Klischee. Was Rückenwind von vorn jedoch von den anderen beiden Filmen unterscheidet ist das Geschlecht der Regie. Die Hannas stammt von Julia C. Kaiser, Zwei im falschen Film von Laura Lackmann.
Vielleicht ist es mein eigener unbewusster Sexismus, der in mir während Rückenwind von vorn immer wieder Bewunderung über die selbstkritische Inszenierung junger Männer* auslöste. Aber ich komme nicht umhin, das sowohl ehrlich als auch mutig zu finden. Marco ist in gewisser Weise ein Klischee, Hobby-Gamer und Tanzmuffel, und wirkt doch wie aus dem Leben gegriffen – zumindest aus meinem. Dabei macht sich der Film niemals über seine Figur lustig oder nimmt eine Bewertung vor. Charly hat nicht mehr oder weniger „Recht“ als Marco – sie möchte einfach etwas anderes. Schließlich sagt Rückenwind von vorn damit nicht nur etwas über Frauen*, sondern auch über Männer* oder über Gender im Allgemeinen: Es ist total okay, dass Charly kein Kind möchte, und genauso okay, dass Marco gerne eins hätte. Es wird einfach Zeit, uns von der Vorstellung zu verabschieden, unser biologisches Geschlecht definiere unsere Lebensentwürfe.
Rückenwind von vorn ist eine Geschichte von weiblicher* Emanzipation – einer Emanzipation von den Erwartungshaltungen unserer Gesellschaft. Dabei ist es egal, ob Marcos Schwester mit dem Satz „Wann kommt denn da mal was?“ auf Familiengründung drängt oder ob Charlys beste Freundin sich anmaßt beurteilen zu können, dass eine Reise nach Korea jetzt genau das richtige wäre. Die große Herausforderung des Frau*seins im 21. Jahrhunderts nämlich sind genau diese multiplen Möglichkeiten, aus denen sich perverser Weise nicht ein Mehr an Freiheit, sondern nur erhöhte Ansprüche ergeben. Wer nämlich alles tun kann, der sollte verdammt noch mal auch alles tun wollen! So zumindest die gesellschaftliche Anspruchshaltung. Da das aber schon allein aus Zeitgründen nicht möglich ist, müssen Frauen* zwangsläufig die eine oder andere Erwartungshaltung enttäuschen.
Philipp Eichholtz gelingt es eben jene Komplexität abzubilden und in die Charakterzeichnung seiner Heldin einfließen zu lassen. Charly ist kein Klischee, kein Abziehbild der „modernen Frau*“. Sie kann kinderlieb sein und doch keine eigenen Kinder wollen. Sie darf sich nach dem Ausbruch aus der Routine sehnen, ohne sich in Drogenrausch und exzessive Partynächte zu flüchten. Sie darf lieben und trotzdem frei bleiben.
Im Laufe der Geschichte fühlt sich Charly immer wieder von der Leidenschaft der Einen oder des Anderen beflügelt und droht darüber die Suche nach ihren eigenen Passionen zu vergessen. Aber es geht nicht darum, sich aus den Lebensentwürfen anderer den individualistischsten rauszusuchen, sondern sich einen eigenen zu konstruieren. Und manchmal ist es dabei sogar opportun mit dem Strom zu schwimmen. Oder anders formuliert: Manchmal kommt der Rückenwind auch von vorn!
Auf die eingangs gestellte Frage „Wie macht der das?“ habe ich immer noch keine Antwort. Aber das Prädikat „Emanzipatorisch Wertvoll“ bekommt der Film von mir trotzdem.
Screenings bei der Berlinale 2018
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