Crossing Europe 2021: 80.000 Schnitzel

Die diesjährige Ausgabe des Filmfestivals Crossing Europe findet nach einer Pause im letzten Jahr wieder vor Ort in Linz statt. In der Sektion Arbeitswelten laufen vier Dokumentarfilme, die sich mit Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft auseinandersetzen. 80.000 Schnitzel erzählt durch eine sehr persönliche Linse von der Übernahme eines alten Bauernhofes. Im Frühling war er war bereits im Rahmen des kleinen Fernsehspiels zu sehen.

Moni ist eine Weltenbummlerin, Mitte 30, und die Schwester der Regisseurin Hannah Schweier. Sie übernimmt den alten Hof ihrer Großmutter in der Oberpfalz samt “Fremdenzimmer”. Denn das alte Zollhaus, einst stets in regem Betrieb, steht heute kurz vor dem Aus: hohe Schulden und die nachlassende Kraft von Oma Berta kommen nicht ohne Hilfe aus. Die Filmemacherin beobachtet skeptisch wie ihre Schwester sich ihren neuen Lebenstraum zwischen Schuldenbergen, kaputten Wasserhähnen und gebärenden Kühen erfüllen möchte. Dabei standen früher Reisen, Genuss und die wissenschaftliche Karriere ganz oben in ihrer Prioritätenliste – weit ab vom stillen bayrischen Landleben in prekären Verhältnissen.

© ZDF, Stefanie Reinhard ___STEADY_PAYWALL___

Gleich zu Beginn von 80.000 Schnitzel erklärt die Regisseurin ihrem Publikum ihre skeptische Haltung gegenüber dem Projekt ihrer Schwester. Diese klare Positionierung erweist sich sofort als großes Plus des familienbiografischen Dokumentarfilms, in dessen mehrjähriger Produktionsphase auch einiges Unvorhergesehenes passiert. Schweier vermittelt uns das Gefühl, Teil eines Prozesses zu sein, der nicht nur aus Fakten, sondern vor Allem aus Emotionen und sich wandelnden Lebenseinstellungen besteht. Die Perspektive ist intim und gibt nicht vor gleich einer Milieustudie, eine symptomatische Geschichte durch die Linse eines beispielhaften Schicksals zu erzählen. Viel mehr erleben wir private Momente mit, sodass Reflexionen und Enttäuschungen gegenüber dem Leben von Schweier und ihrer Familie umso mehr unter die Haut gehen.

Das Zollhaus und die Oma Berta: Das Dach eint nun wieder zwei Generationen – unterschiedlich in ihren sozioökonomischen Prägungen und ideellen Vorstellungen an das Leben. Die Oma arbeitet im Zollhaus seit sie mit 19 dort eingeheiratet hat, das Meer kennt sie nur aus den Medien – Moni lebte und studierte jahrelang in Italien: Dolce vita und dann die Welt verändern, lautete ihr Plan. Ob Moni wohl das Meer vermisse, fragt Hannah und Berta verneint, als wüsste sie über Monis Innenleben Bescheid. Gleichzeitig versteht Moni nicht, wie ihre Großmutter nicht davon lassen kann, ihre Schnitzel zu klopfen, während sie sich unablässig über die Arbeit in der Küche beschwert. Die Gäste, von denen manche seit Jahrzehnten das Zollhaus als Erholungsort bereisen, wollten eben versorgt werden – „So is’ eben“. Im Zollhaus scheint vieles als natürlich gegeben. Das meiste wird gemacht, ohne hinterfragt zu werden. Dabei fängt die Kamera viele zwischenmenschlich mit Konfliktpotenzial geladene Momente zwischen Moni und Berta ein, in denen wir als Publikum erkennen, dass hier zwei verschiedene Lebenswelten aufeinandertreffen und doch in Einklang leben.

© ZDF, Stefanie Reinhard

Während ihre Enkelin spätabends noch das Feld beackert, folgt die Filmemacherin der Großmutter in die verschiedenen Winkel des Hauses, in denen die Zeit still steht. Wie ein Relikt aus vergangenen Tagen steht die alte Jukebox in der Gaststube – sie funktioniert natürlich nur mit D-Mark-Münzen. Freddy Quinn trällert aus dem lichtdurchfluteten Kasten und für einen Moment scheint die Welt in Ordnung. Denn wenn die Schlagerlegende aus den 1950ern vom Meer und von verschiedensten Orten aus der Welt singt, träumt Oma Berta nur von einem: dem Zollhaus inmitten seiner prächtigsten Zeiten, in denen bis 4 Uhr in der Früh gefeiert wurde. Dass für Berta und ihre Familie die Arbeit nach dem letzten Schnaps noch lange weiter ging, erwähnt sie nur nebenbei. Jeder Atemzug schien von Arbeit bestimmt – Genuss war eine Rarität. Erst jetzt, im hohen Alter ist es für die Oma ruhiger geworden. Archivaufnahmen lassen uns erahnen, wie es damals zuging: lustig und stressig zugleich, viel Alkohol, viele Schnitzel, viel Geschirrspülen ohne Maschine.

Moni und Hannah wuchsen hingegen ganz anders auf. Der Vater, selbst Arzt, widmete sein Leben nicht der Arbeit, sondern am liebsten dem Reisen. Während der Ferienzeiten schloss er die Praxis, um mit seiner Frau und den Töchtern nach perfekten Momenten in Griechenland und Italien zu suchen. „Er hat uns verdorben“, sagt die Regisseurin und stellt mit dieser Eigenerkundung den Kern des Generationengaps zwischen Moni und Berta fest. Da ist der Genuss und der Überfluss, die Träume vom Meer und Unabhängigkeit, dort ist die Hingabe zum eigenen Heim, zum Aufrechterhalten eines Familienbetriebs und einer Gemeinschaft an Gästen, die auch schon Teil der Familie geworden ist. Über den sozioökonomischen Hintergrund dieser beiden Lebensmodelle reflektiert Schweier in 80.000 Schnitzel aber nicht tiefergehend. Zu eng scheinen die Wege der Schulden und Wohlstände in den jeweiligen Familienbiografien verästelt zu sein. Waren die Schulden das alleinige Resultat des Größenwahns des verstorbenen Onkels oder war die Familie schon lange zuvor schlecht gestellt?

© Crossing Europe

80.000 Schnitzel erzählt nicht von der Kunst des richtigen Panierens oder plädiert gegen die Landflucht junger Leute. Im Zentrum der Bilder steht zwar die frische Jungbäuerin und ihre Großmutter, doch das geistige Herz des Films findet sich in Schweiers Erwartungen und Einstellungen gegenüber dem Leben und der Zukunft, die sich bislang stark in denen der Schwester gespiegelt hatten. Während aber nun die Schwester in der Oberpfalz einen Lebenspartner findet und vorerst richtig sesshaft werden möchte, sieht Schweier die Kindheitsträume von einem berauschenden Leben auf ständigen Reisen endgültig platzen. Das Eintreten des 40. Lebensjahres erkennt sie schließlich als Markierung, um loszulassen, nicht mehr nach Cannes oder Hollywood zu streben, sondern das Gegenwärtige zu akzeptieren. Dies mutet am Ende gar resignativ an, wo doch kein Lebensalter sich besser oder schlechter gesellschaftlichen Erwartungen fügen sollte müssen. In diesem Moment scheint Schweier gar die Haltung ihrer Großmutter übernommen zu haben, die in Erinnerungen schwelgend das größte Glück erlebt.

Hannah Schweiers Porträt entlässt einen nachdenklich und voller Bewunderung für die Entschlossenheit Monis und das Durchhaltevermögen Bertas. Männer spielen hier nur durch ihre Abwesenheit eine Rolle, durch ihre hinterlassenen Schulden und unerfüllten Lebensträume, die Berta zur Last fielen und ihre Enkelinnen prägen. Viel erfahren wir zwar nicht über die patriarchalen Verhältnisse des Zollhauses, doch gibt uns ein Wandspruch zu Beginn des Films eine Idee von seinen vergangenen Strukturen: „Weil Gott nicht alles alleine machen wollte, schuf er die Mütter“. Vielleicht filmt Schweier einmal eine Fortsetzung, in dem wir über Monis Leben mit dem Jungbauern erfahren, der nur in zwei kurzen Momenten zu sehen ist. Bis dahin bleibt aber sicher noch viel Arbeit.

 

 

Bianca Jasmina Rauch
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