FFMOP 2022: Anima – Die Kleider meines Vaters

Eine Kindheit im Oberbayern der Achtziger Jahre: Trachtenaufmärsche in Dirndl und Lederhose, katholische Feiertage, Fassaden glücklicher Kernfamilien. Heteronormativität, starre Geschlechterrollen und Schuldgefühle. Mittendrin Uli Decker, die später nicht nur diesen Film drehen, sondern auch erfahren wird, dass ihr verstorbener Vater sein Leben lang ein Geheimnis vor seinen Töchtern bewahrt hatte. Eine hinterlassene Kiste und die wissende Mutter lassen die Filmemacherin und ihre Schwester in Anima einen ganz neuen Blick auf sein Leben einnehmen: Deckers Vater war Transvestit. Erst beim Tragen von Kleidern und Absatzschuhen fühlte er sich frei – frei von den einschränkenden Normen traditioneller Männlichkeit, die weder damals noch heute Modeaffinität und Sensibilität zulassen.

Regisseurin Uli Decker wollte selbst bereits als Kind binäre Geschlechterrollen verabschieden, um weder als Mädchen in die Rolle der Passivität gedrängt zu werden noch als Frau in die der bloßen Unterstützerin eines Männern zu schlittern, wie es ihr im Fernsehen und überall sonst vorgelebt wurde. Während Decker ihren Unmut rebellisch zum Ausdruck brachte und nach Südamerika reiste, um sich selbst zu finden und von bürgerlichen Konventionen zu befreien, zog sich das „Oberhaupt“ der bürgerlichen Bilderbuchfamilie mit dem Schmerz des verinnerlichten Zwangs zur normativen Anpassung zurück. Decker stieß auf die Tagebücher ihres Vaters, die sie, neben der Rekonstruktion ihrer eigenen Erinnerungen und Biografie als Grundlage dazu nimmt, um den Beweggründen und Emotionen des Verstorbenen näherzukommen. Dass der Vater darin schrieb „Wir  müssen die Mütter und Väter auch verraten, damit wir mit unserer Vergangenheit in Frieden leben können“ scheint der Regisseurin wie ein Zeichen für die Umsetzung des Films .

© Flare Film Privatarchiv Familie Decker ___STEADY_PAYWALL___

Anima beschränkt sich formal nicht auf die für persönliche Dokumentarfilme gängige Kombination aus Interviewsituationen mit Weggefährt:innen und Archivaufnahmen, sondern präsentiert darüber hinaus auch animierte Passagen. Mal sind es durch Collagentechnik zum Leben erweckte Fotoschnipsel, mal fährt das Bild durch einen Dschungel, während die Filmemacherin im Off von ihrem ersten Therapieerlebnis erzählt. Nachdem der Therapeut von ihrer empfundenen Zuneigung zu einer Frau erfährt, rät er ihr, ins Kloster zu gehen oder sich anderweitig in den Dienst Gottes zu stellen. Und ihr Vater? Als Ministrant beichtete er regelmäßig, nur um sich furchtbar schuldig zu fühlen und unverstanden zu bleiben. Später war er mit seinem Geheimnis lange Zeit alleine. Er wusste von Transvestiten, die von Therapeut:innen in die Psychiatrie geschickt wurden und hielt sich bedeckt.

© Flare Film Siri Klug

Während wir Deckers Familiengeschichte verfolgen und ihren Vater durch ihre Linse ein wenig kennenlernen, kommt uns die ohnehin schon absurde Stigmatisierung einer Tätigkeit, die gesellschaftliche Normen in Frage stellt, aber niemanden als die Person selbst involviert, immer absurder vor. Indem ein heterosexueller cis-Mann Kleider trägt, stellt er eine Bedrohung der patriarchalen Ordnung dar, die von der Gesellschaft strikt bewacht wird. Als schwuler Mann wäre er geothered worden und die Schubladisierung schnell erfolgt. Doch in welche Schublade hätten ihn seine Mitmenschen als heterosexuellen Mann gesteckt? Denn die omnipräsente Frage für den Vater lautete: Was würden die Nachbar:innen und Mitschüler:innen denken? Erst nach langer Zeit und ausgelöst durch einen Zufall offenbarte der Vater sein Geheimnis seiner eigenen Frau – er fürchtete sich vor einer Scheidung. Doch nichts dergleichen trat ein, denn keine Dresscodes, sondern Empathie und Liebe hielten die Beziehung im Kern seit langem aufrecht. Nun suchten die Deckers gemeinsam Kleider aus und konnten endlich ehrlich miteinander sein.

© Flare Film Falk Schuster

Anima erzählt nicht nur die Geschichte eines einzelnen Mannes, sondern wird auch zum Plädoyer für die Aufweichung starrer Geschlechtervorstellungen und für einen ehrlichen Umgang innerhalb der Familie und der Gesellschaft. Denn traditionelle Männlichkeitsbilder sind nicht nur in einer katholischen Erziehung, die von Schuld und Gehorsam getragen  wird, präsent, sondern dominieren weitreichende gesellschaftliche Diskurse und Lebensrealitäten. Was ist die Vorstellung von einer rigiden Männlichkeit wert, wenn sie lediglich zu Unterdrückung und Schmerz führt? Männlichkeit bedeutet auch Sensibilität zu zeigen. Oder fängt mit „Männlichkeit bedeutet“ schon die Denkblockade an? Was bedeutet schon Männlichkeit und wozu? Und kann die Mode nicht allen gehören, frei von Schubladen und Stigmatisierungen? Inmitten gegenwärtig glücklicherweise häufiger geführter Debatten um Sexualität und Geschlecht, schafft Uli Decker durch ihre eigene Erfahrung als queere Frau  verbunden mit der Geschichte ihres Vaters eine eigene Perspektive, die auch ihrem Publikum neue Blickwinkel ermöglicht.

Anima – Die Kleider meines Vaters feierte seine Weltpremiere am Filmfestival Max Ophüls Preis 2022.

 

Bianca Jasmina Rauch
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