FFHH 2024: Blindgänger
Eigentlich darf ich gar keinen Text über Blindgänger, den neuen Film von Kerstin Polte, schreiben, denn „leider“ kenne ich die Regisseurin persönlich, mag sie sehr und bin ergo gar nicht objektiv. Weil objektiv muss eins ja sein, um gute Filmkritik zu machen, nicht wahr?! Nicht wahr? NICHT wahr!
Da es objektive Filmkritik sowieso nicht gibt und wir uns bei FILMLÖWIN grundsätzlich wenig dafür interessieren, was patriarchale Strukturen uns vorgeben, werde ich es jetzt trotzdem tun. Weil der Film es verdient hat, dass ihr jetzt hier von ihm erfahrt.
Alles begann vor etwa sieben Jahren, als Regisseurin Kerstin Polte von der Evakuierung eines Altersheims im Zuge einer Bombenentschärfung erfuhr und sich dachte: Diese Menschen haben jetzt unter Umständen schon das zweite Mal mit derselben Bombe zu tun! Aufbauend auf diesem Gedanken entwickelte sie die Handlung ihres Episodenfilms Blindgänger, der verschiedene Figuren rund um eine Bombenentschärfung in der Hamburger Innenstadt begleitet.
Alle Protagonist*innen sollen auf Augenhöhe sein, ihre eigenen Geschichten mit Höhen und Tiefen erleben, sagte Kerstin Polte nach der Uraufführung beim Filmfest Hamburg 2024. Für mich stand aber trotzdem eine Figur klar im Fokus: Lane (Anne Ratte-Polle), die beim Kampfmittelräumdienst arbeitet, ein transgenerationales Trauma verarbeitet und deren Mutter Margit (Barbara Nüsse), selbst Überlebende des zweiten Weltkriegs, seit Jahren das Haus nicht verlassen hat. Aber da sind noch viel mehr Figuren, wie Lanes Kollege Otto (Bernhard Schütz) und dessen Ehefrau Hanne (Claudia Michelsen), Margits Nachbar Viktor (Karl Markovics) und dessen Untermieter Junis (Ivar Wafaei) dem die Abschiebung nach Afghanistan droht.
Wie schon in Poltes letztem Film Wer hat eigentlich die Liebe erfunden? ist auch in Blindgänger die Liebe der Regisseurin zu jeder einzelnen Figur ihrer Geschichte auf eine besondere Weise spürbar. Als Publikum können wir mit ausnahmslos allen Sympathie empfinden und werden an keiner Stelle zu vorschnellen Urteilen eingeladen. Dramaturgisch gesehen findet der Konflikt also in den Figuren und nicht zwischen ihnen statt: Es gibt keine Bösewicht*innen in dieser Geschichte. Statt auf maximaler Spannung in Anbetracht der tickenden Bombe liegt der Fokus der Erzählung auf den Protagonist*innen, alle selbst kleine tickende Bomben. In den Tiefen ihrer Geschichten liegt jeweils mindestens ein Blindgänger, ein Trauma, ein Schmerz, eine Sehnsucht, die viel zu lange ignoriert wurden und sich jetzt den Weg an die Oberfläche bahnen. Letztlich ist Trauma vielleicht genau das: eine verschüttete Bombe in den tiefen unseres Unterbewusstseins, die wir nicht ewig ignorieren, sondern behutsam entschärfen müssen, damit sie nicht eines Tages explodiert.
Ich finde, niemand erzählt Geschichte im deutschen Kino wie Kerstin Polte, mit diesem Mut zur Magie und großen Emotionen, niedrigschwellig, breitentauglich und doch tiefgründig, queer und inklusiv. Das filmische Universum, das sie erschafft, sträubt sich gegen jede Form der zeitlichen Kohärenz: Da existieren Smartphones neben alten Tastentelefonen, da ist die Weltkriegsüberlebende definitiv zu jung für ihre Biographie. Die Zeitlosigkeit spiegelt sich auch in der Ausstattung wider, in den liebevoll eingerichteten und durch die Fülle an Requisiten märchenhaft wirkenden Innenräumen. Und zugleich fällt der diverse Cast auf, die Einbindung lesbischer Liebe, Drag und einer der zärtlichsten heterosexuellen Männerbegegnungen, die ich je im Kino gesehen habe. All das mag in einem US-amerikanischen Indiefilm wenig überraschen, doch im Kontext des zeitgenössischen deutschen Kinos sind diese Elemente, insbesondere in Kombination mit dem Genre, definitiv etwas Besonderes.
Ich sehe vor meinem inneren Auge schon Kolleg*innen mit erhobenen Augenbrauen darüber seufzen, dass der Einsatz von Musik zu sehr emotionalisiert, dass da zu viel Pathos ist, zu viel Kitsch. Zu viel für was eigentlich? Ich glaube viel eher, dass Kerstin Polte Filme für die breite Masse macht, eben kein nüchtern deutsches Arthaus-Kino, dessen vermeintliche Entschlüsselung einigen meiner Filmkritikolleg*innen so große Freude bereitet, weil sich die Botschaft so herrlich exklusiv anfühlt. Dass sie eine Frau ist, macht die Sache nicht besser. Männer dürfen in Deutschland natürlich gefühlsbetontes Mainstreamkino machen und werden dafür gefeiert. Die Messlatte für Frauen in der Regie hängt allerdings in der Höhe des internationalen Festivalerfolgs Toni Erdmann, um überhaupt erwähnt zu werden. Dabei ist diese Art messbaren Erfolgs natürlich in sich schon wieder ein patriarchales Konzept.
„Ich hoffe, wir können einander zuhören und einander heilen“, sagt Kerstin Polte über die erwünschte Wirkung ihres Films. Ich glaube nicht, dass sie Blindgänger gemacht hat, um Preise zu gewinnen und sich mit Lobhudeleien der deutschen Filmkritik zu schmücken. Ich glaube, dass Kerstin Polte diesen Film gemacht hat, weil sie es musste. Weil sie ihn gefühlt hat und weil sie wollte, dass das was sie fühlt auch andere fühlen. Weil sie glaubte, dass dieses Fühlen die Welt ein kleines bisschen besser macht. Und dass sie deshalb ihren Film auch so gemacht hat, dass möglichst viele Menschen ihn fühlen können.
Ich bin nicht neutral genug, um eine objektive Aussage über Blindgänger treffen zu können. Aber wer bitte ist das schon? Und sollte so ein Film wie Blindgänger überhaupt neutral beurteilt werden? Deshalb hier meine ganz persönliche Meinung: Ich habe mich gegen diesen Film immer wieder gewehrt, insbesondere gegen seine Versuche Emotionen zu wecken. Ich war nicht ganz überzeugt von den Figuren, aber ich habe ihnen ausgesprochen gerne zugesehen. Vor allem hat es meine Seele gestreichelt, dass in diesem Film so viel Liebe spürbar war, habe die Einladung, die Figuren auf der Leinwand in mein Herz zu schließen, so gerne angenommen, habe mich gerne anstecken lassen von dem Glauben an Magie und das Gute im Menschen. Und mich einfach darüber gefreut, dass es Filme wie diesen und Filmemacherinnen wie Kerstin Polte gibt
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