FFHH 2024: Bird

Mit Bird kehrt Regisseurin Andrea Arnold nach Cow nicht nur ins Spielfilm-Genre, sondern auch in das Milieu prekär lebender junger Menschen zurück. Alter und soziale Herkunft ihrer Hauptfigur erinnern ebenso an American Honey wie der einem Musical ähnlichen Einsatz von Musik als Teil der Erzählung. Der Spielort wiederum ist mit Kent in Großbritannien ein anderer und auch die märchenhaften Elemente im Storytelling heben Bird vom erwähnten Vorgänger ab.

Die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) lebt mit ihrem nur etwa 16 Jahre älteren Vater Bug (Barry Keoghan) und dem älteren Bruder Hunter (Jason Buda) in einem besetzten Haus. Ihr Leben bietet weder eine äußere Struktur noch einen inneren, familiären Halt: das Mädchen ist mit all seinen Ängsten, Problemen und Träumen weitgehend auf sich allein gestellt. Das Gefühl der Einsamkeit spitzt sich zu, als Bug seine Hochzeit mit Kayleigh (Frankie Box) ankündigt. Bailey fühlt sich übergangen, scheint sie doch als Letzte von diesem Plan zu erfahren, und Bug fühlt sich von der Ablehnung seiner Tochter missverstanden. Als somit das letzte bisschen Familiengerüst in Baileys Leben zusammenzubrechen droht, lernt sie mitten auf einem Feld den deutlich älteren Bird (Franz Rogowski) kennen, der auf seiner ganz eigenen Suche nach Familie zu sein scheint. 

© MFA

Bird ist mit seinem Rock und dem zugewandten wie zugleich verspielten Verhalten von Beginn an eine Figur außerhalb des realistischen Settings des Films. Auch auf technischer Ebene trennen sich hier die Sphären: Während die Handkamera, die Bailey durch ihren Alltag in Kent begleitet, durch ihre Nähe und große Dynamik für das Kinopublikum visuell einen Belastungstest darstellt, beruhigt sich die Bildebene stets mit dem Auftauchen von Franz Rogowski. Damit fügt er sich stilistisch in die ebenfalls ruhigen Naturaufnahmen, die die Spielfilmhandlung ergänzen, ein. Bird existiert zugleich außerhalb und innerhalb der Handlung, als Bild und Gefühl eines schützenden Beobachters und als eine die Handlung antreibende Figur. 

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Bird wirkt beruhigend auf Bailey und die Zuschauer*innen dieses Films, da er eine Pause von den bedrückenden Einblicken in das Leben von Bailey, ihrer Geschwister und Freund*innen gewährt. Dreckige, unordentliche Wohnräume, Drogenkonsum und gewalttätige Eltern, durchgehend emotional und körperlich vernachlässigte Kinder. Andrea Arnold schießt mit dem Porträt dieses Milieu ein wenig über das Ziel hinaus, bietet über weite Strecken kein Gegengewicht zum Betroffenheitskino. Auch in Baileys Geschichte tun sich immer neue Untiefen auf, die die vorherigen relativieren: Sobald wir die Lebensrealität ihrer Mutter Peyton (Jasmine Jobson) sowie der drei jüngeren Geschwister erblickt haben, erscheint das Leben mit Bug plötzlich nahezu fürsorglich und geborgen. 

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Überhaupt ist Geborgenheit eines der großen Themen dieses Films. Bailey findet Zuflucht in ihrer Schlafecke, in der sie sich in einen Schlafsack gewickelt vor dem Rest der Welt verstecken kann. In den Umarmungen von Bird findet sie Halt und sie selbst gibt den drei jüngeren Geschwistern eine Form liebevoller Zuneigung und Sicherheit, die sie im Alltag mit Peyton nicht erleben. Und auch Bug entpuppt sich schließlich als ein Mensch, der Geborgenheit geben kann. So findet auch nach und nach ein Perspektivwechsel statt, der einzelne Figuren aus der Rolle der Täter*innen in die der Überlebenden überführt und das Kinopublikum dazu herausfordert, die Graustufen zwischen Gut und Böse wahrzunehmen. 

An anderer Stelle traut Andrea Arnold ihren Zuschauer*innen allerdings weniger zu. Die metaphorische bzw. märchenhafte Ebene, die sie mit der Figur des Bird aufmacht, wirkt immer wieder übererklärt. Erinnerungen repräsentierende Flashbacks lassen keinen Zweifel an, aber eben auch keinen Interpretationsspielraum für Baileys Perspektive aufkommen. Es scheint der Regisseurin außerordentlich viel daran gelegen zu sein, dass die empowernde Botschaft ihres Finales an keiner einzigen Person im Publikum vorbeigeht. 

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Wie schon Arnolds vorherige Filme hat auch Bird keine überflüssige Minute und saugt seine Zuschauer*innen souverän in die Geschichte auf, trägt es durch die Nähe zur Hauptfigur und deren emotionale Entwicklung, aber auch durch den Einsatz von Musik und das gespannte Bangen um das Wohl der Heldin souverän durch die zwei Stunden Laufzeit. Aber da ist noch etwas anderes, das diesem Film gelingt, um sein Publikum zu binden, und das ist die emotionale Brücke, ist die subtile Arbeit mit Bild und Ton, die Baileys Sehnsucht auf der Gefühlsebene vermittelt, die Sehnsucht nach Halt, nach Sicherheit, nach Geborgenheit, die uns allen bekannt ist, uns alle verbindet. Und trotz der überdeutlichen Not der Figuren findet Bird schließlich ein empowerndes Ende, einen Blick auf die Stärke vermeintlich verlorener Menschen, einen Ausweg aus der Spirale fehlender Geborgenheit. Und spendet uns damit jenen Trost, den Bird Bailey bietet. 

Bird ist Bird ist Bird ist…

Sophie Charlotte Rieger
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