Cow

Der erste Dokumentarfilm der britischen Regisseurin Andrea Arnold handelt von einer Milchkuh namens Luma und nimmt ein Leben in den Blick, das unsichtbar ist und zu dem die wenigsten einen Bezug haben. Die Regisseurin schafft es, das komplexe Thema industrieller Tierhaltung aufzugreifen, es sicht- und fühlbar zu machen, ohne dabei die Protagonistin des Films aus den Augen zu verlieren. Damit betritt sie, die bisher Filme wie Fish Tank (2009) und American Honey (2016) drehte und zuletzt bei der zweiten Staffel der amerikanischen TV-Serie Big Little Lies Regie führte, filmisches Neuland und erkundet gleichzeitig Themen, die sie bereits in früheren Filmen aufgegriffen hat.

Es gibt Tierfilme wie Unsere Erde (Alastair Fothergill, Mark Linfield 2007), die Flora und Fauna unterschiedlichster Klimazonen in atemberaubenden Bildern festhalten und zu einer anschaulichen Erzählung formen. Diese Filme vermitteln Respekt vor dem Wunder der Natur, aber auch das Gefühl, dass Tiere anders, unbegreiflich und geheimnisvoll sind. Am anderen Ende des Spektrums gibt es Dokumentationen, die sich auf die Unterdrückung von Tieren, auf Massentierhaltung und Tierversuche konzentrieren. Earthlings (Shaun Monson 2005) ist solch ein Beispiel. Der Film arbeitet im Gegensatz zu Unsere Erde mit Aufnahmen von versteckten Kameras, die so schockierend wie verstörend sind. Ziel beider Dokumentarfilme ist der Schutz von Tier und Umwelt. Einmal soll das durch staunenden Respekt im anderen Fall durch schockierte Anteilnahme geschehen. In beiden Fällen bleibt eine Distanz zwischen Publikum und den gefilmten Tieren.

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© Mubi

Cow verzichtet sowohl auf atemberaubende Bilder als auch auf versteckte Kameras. Über mehrere Jahre hinweg haben Arnold und Kamerafrau Magda Kowalczyk die Milchkuh Luma begleitet, die auf einem Hof im englischen Kent gehalten wird. Sie dokumentieren den scheinbar endlosen Kreislauf von Schwangerschaft, Geburt, Milchgewinnung und erneuter Schwängerung. Sie zeigen, wie die Kälber kurz nach der Geburt von den Muttertieren getrennt werden, wie ihnen die Ansätze ihrer kleinen Hörner aus dem Schädel gebrannt werden, aber auch wie sie im Sommer auf der Weide umherspringen.

Arnold geht es weder darum, die Tierwelt romantisch zu verklären noch die Brutalität industrieller Tierhaltung in den Vordergrund zu stellen. Wir sollen hinschauen und Luma sehen – wirklich sehen. Magda Kowalczyk ist mit ihrer Handkamera immer ganz nah an den Tieren und legt den Fokus auf ihre Augen. Die Kameraarbeit ist unmittelbar und unglamourös; nah an den Tieren zu sein ist wichtiger als eine perfekte Bildkomposition. Das Ergebnis sind Bilder mit emotionaler Schönheit; sie anzusehen tut weh. In der Mitte des Films gibt es eine Einstellung, in der Luma auf der Weide steht und ihren Kopf in die Sonne hält. Kowalczyks Kamera mimt dabei ihren Blick in die Sonne. Diesen Moment anzusehen, ist schmerzhaft, da er verdeutlicht, wie selten Luma tatsächlich auf der Weide steht. Dieser fühlende Blick lässt uns spüren, was eigentlich auf der Hand liegt: Dass Luma einen eigenen Charakter hat, ein empfindsames Wesen ist, das behandelt wird, als könne sie keinen Schmerz spüren, als hätte sie keine Seele.

Die Realität industrieller Tierhaltung bleibt im Alltag vieler Menschen meist abstrakt und schwer fassbar. „People find it hard to connect with something that isn’t really in their lives”, erklärt Arnold in einem Interview. Cow zeigt nicht nur, was industrielle Milchproduktion für die Kühe bedeutet, der Film macht es auch spürbar. Damit stellt er genau den Bezug zwischen Produkt und Produktion her, der sonst nur schwer nachvollziehbar ist. Möglicherweise wollen wir im Alltag nicht hinschauen, weil wir wissen, dass Sehen auch (Mit-)Fühlen bedeutet.

© Mubi

Andrea Arnold hat sich in Interviews konsequent geweigert, Auskunft darüber zu geben, wie sie selbst zum Veganismus steht. Das Publikum solle seine eigene Beziehung zum Film aufbauen, sagt sie. Dass der Status quo in der Milchproduktion brutal ist, wird dennoch deutlich. Allerdings vermeidet Arnold es, den Milchbäuer:innen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Grausamkeit steckt im System. Niedrige Milchpreise und der Druck immer mehr für immer weniger zu produzieren, sind mit Tierwohl unvereinbar. „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen”, schreibt der Philosoph Theodor Adorno in seiner Minima Moralia. Und auch wenn das Werk sonst eher hochtrabende Kulturkritik äußert, ist dieser Satz das Stille Credo von Andrea Arnolds Dokumentation.

In den Filmen von Andrea Arnold stehen stets auf Frauen im Mittelpunkt. Auch in Cow interessiert sie der weibliche Aspekt der Milchproduktion: „They work so hard and they live this life of maternal existence. They’re impregnated, they give milk, and that can happen 15 times”. Luma und die anderen Milchkühe fristen ein Dasein in ständiger Mutterschaft, werden jedoch von ihren Kälbern kurz nach der Geburt getrennt. Der Film zeigt eine Extremform weiblicher Ausbeutung und erzählt auf diese Weise davon, was Patriarchat und Kapitalismus miteinander verbindet: Macht. Denn am Ende kann dieses System nur durch Unterdrückung existieren. Hier sind es die Milchkühe, die wie Ware behandelt werden, die ein Dasein fristen, anstatt leben zu dürfen. Und auch wenn der Film keinen Ausweg aus diesem Ist-Zustand anbietet, ist er trotzdem radikal. Denn Andrea Arnold lässt uns in Cow zweimal hinsehen. Wir sollen Luma sehen und das System, das sie unterdrückt. Sehen bedeutet in Arnolds Film zu fühlen, nicht länger wegsehen zu können und das wiederum macht Hoffnung auf Veränderung.

Am Ende ist Cow ein unheimlich starker Film. Indem er sich das Leben einer einzelnen Milchkuh ansieht, richtet er die Kamera auf die Wirkungsweise und grundlegende Unbarmherzigkeit des patriarchal-kapitalistischen Systems, in dem wir leben und das oft so schwer zu fassen ist.

Cow könnt ihr ab dem 11.02.2022 auf Mubi sehen.

Theresa Rodewald