Berlinale 2022 – Kino ist nicht für alle da
An dieser Stelle könnte eine Filmkritik zum Berlinale Eröffnungsfilm stehen. Oder zu irgendeinem Berlinale Film. Aber dem ist nicht so, denn ich kann dieses Jahr – wie viele andere Kolleg:innen – am Festival nicht teilnehmen. Stattdessen steht hier jetzt ein Text über meine Beweggründe und warum die Berlinale die Chance verpasst hat, die Pandemie als Sprungbrett in die Zukunft des Kinos zu nutzen.
Die Präsenzpflicht bei der Berlinale wird nicht aufgehoben
Wir befinden uns mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie. Vorübergehend war jede vierte Berliner Kita geschlossen, jetzt mit dem Wegfall der Quarantäne für Kinder als Kontaktpersonen steht der Durchseuchung der Jüngsten in unserer Gesellschaft endgültig nichts mehr im Wege. Vielmehr ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Kita-Kind das Virus zu Hause einschleppt und die Familie in Isolationshaft nimmt – insbesondere für Alleinerziehende nicht nur ein Horrorszenario, sondern auf verschiedenen Ebenen existenzbedrohend. Währenddessen brechen wegen der Erkrankungswelle Teile der Infrastruktur zusammen, wie zum Beispiel der öffentliche Personennahverkehr, und die Präsenzpflicht in den Schulen wird ausgesetzt. Gebärende sind im Kreißsaal noch immer über lange Strecken ohne Partner:in, nicht-gebärende Elternteile dürfen ihre Kinder nach der Geburt nicht besuchen. Die Menschen sind allgemein dazu angehalten, sich möglichst nicht in großen Gruppen in Innenräumen aufzuhalten, denn noch immer sterben täglich mehrere hundert Patient:innen an Corona.
Aber die Berlinale findet ausschließlich in Präsenz statt. Also noch mal zum Verständnis: Journalist:innen MÜSSEN in Präsenz anwesend sein, um ihren Job zu machen. Das Festival stellt die Filme nicht online zur Verfügung. Wer nicht hingehen kann oder aus guten Gründen (siehe oben) nicht will, muss berufliche Nachteile und einen Verdienstausfall in Kauf nehmen. Die Kollegin Anna Wollner hat sich bei RBB24 darüber sehr treffend kritisch geäußert, ebenfalls Sebastian Seidler in der TAZ. Gebracht hat es nichts, vielleicht auch, weil der Verband der deutschen Filmkritik nicht so richtig mit einsteigen wollte in das Argument der beruflichen Diskriminierung. Und das wiederum vermutlich deshalb, weil seine eigene Veranstaltung – die Woche der Kritik – ebenfalls ausschließlich in Präsenz stattfindet.
Aber das Kino!!
Es geht hier aber um viel mehr als nur ein Filmfestival, nämlich um ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem: Die Ausgrenzung von Menschen, die neben ihrer Lohn- auch Care-Arbeit erledigen (also in der Regel Frauen), Personen mit Behinderungen oder in diesen Zeiten auch einfach nur mit Verantwortungsgefühl wird als notwendiger Kollateralschaden einfach so hingenommen. Das Beharren auf dem Kinoerlebnis als ausschließlichen Zugang zum Medium Film streckt all diesen Menschen die Zunge raus und sagt: Ihr seid unwichtig. Seht doch zu, wie ihr klarkommt. Eure Teilnahme, Eure Möglichkeiten der Erwerbsarbeit, Eure Perspektiven sind uns scheißegal.
Genau diese arrogante und menschenverachtende Haltung gegenüber weniger privilegierten Gruppen drückt sich auch im Derailing jener Kolleg:innen aus, die in der Forderung eines hybriden Festivalkonzepts einen Angriff auf „das Kino“ von Seiten „des Streamings“ wittern (hier ganz bewusst nicht verlinkt, um ihnen nicht mehr Bühne zu geben als unbedingt nötig). Als handele es sich bei Kino und Streaming um tatsächliche Akteur:innen, die einander bekriegen, und nicht um kulturelle Reproduktionen von Gesellschaft, die niemals nie im Stillstand, sondern immer nur in ihrer Weiterentwicklung Relevanz gewinnen.
Diese rückwärtsgewandte Haltung sowie der mit ihr einhergehende Beißreflex gegen alles Neue ist ebenso elitär wie dämlich, denn die Beißenden haben den eigentlichen Diskurs überhaupt nicht verstanden. Es geht nicht um das Kino und auch nicht darum, ob wir Filme lieber auf der großen Leinwand sehen (was wir gerne tun, spielt seit März 2020 für die Verantwortungsvollen unter uns ohnehin eine untergeordnete Rolle). Stattdessen geht es um Menschen und Menschenleben. Nicht das Kino müssen wir retten, denn das hat niemand angegriffen. Es befindet sich schlicht und einfach mittendrin in einem gesamtgesellschaftlichen Umbruch, katalysiert aber keinesfalls ausgelöst durch die Pandemie. Wenn überhaupt jemand gerettet werden muss, dann sind das Menschen auf Corona-Intensivstationen, Menschen, die durch die Pandemie ihre Arbeit und/oder ihren Verstand verloren haben, Menschen, die unter der Doppelbelastung aus Lohn- und Care-Arbeit gerade endgültig zusammenbrechen.
Nun könnte uns der fehlende Durchblick der selbsternannt Klügsten unserer Profession schnurzpiep sein, wenn das Ganze nicht so bezeichnend für die deutsche Filmlandschaft im Allgemeinen und Filmkritik im Besonderen wäre, dieses ewige sich Suhlen im eigenen intellektuellen Saft bei gleichzeitigem Abgesang auf das Kino, das im Grunde in der Arroganz eben jener ersäuft, die sich vor Angst um ihre Privilegien panisch an das Gestrige klammern. Es ist mir schleierhaft, wie die apokalyptischen Kulturprophet:innen den Untergang der Kunst beklagen können, während es doch gerade ihre vehemente Weigerung gegen den natürlichen Lauf der Dinge ist, gegen die der Kunst innewohnende Dynamik der Veränderung, die hier das Grab des Kinos aushebt.
Die Pandemie als Chance – verpasst
Denn im Grunde genommen ist die Diskussion um hybride Filmfestivals auch ohne Pandemie überfällig. Allein der Klimawandel wäre Grund genug, die alljährliche Kritiker:innen-Migration um den Planeten allermindestens zu hinterfragen. Ja, das Kino lebt von der Präsenz. Vielleicht aber müssen wir eben nicht alle immer präsent sein, um es am Leben zu erhalten. Im Gegenteil erhalten wir es vielleicht auch gerade dadurch am Leben, dass wir Veränderungen ins Auge sehen, anstatt uns im Elfenbeinturm der Kultureliten zu verschanzen.
Neben dem Klimawandel gibt es ja noch andere Veränderungen, die durchaus für ein Umdenken sprächen. Beispielsweise Gleichberechtigungsdiskurse. Filmfestivals – wie ja die gesamte Filmbranche – sind immens familienfeindlich. Wer Kinder betreut, kann an einem Festival nur sehr beschränkt teilnehmen. Erinnern wir uns zum Beispiel an den Fall der britischen Regisseurin Greta Bellamacina, der 2019 der Zutritt zum Festivalpalais in Cannes verwehrt wurde, weil sie ihr vier Monate altes Baby mitnehmen wollte. Überhaupt ist in über 70 Jahren Filmfestivalgeschichte noch niemand darauf gekommen, dass es vielleicht praktisch wäre, eine Kinderbetreuung für die dort berufstätigen Menschen anzubieten.
Auch Filmjournalist:innen können sich eigentlich nur eine Festivalberichterstattung leisten, wenn sie entweder keine kleinen Kinder haben oder Partner:innen, die diese betreuen. In der Konsequenz gibt es mehrheitlich Texte von „alten weißen Männern“. Und das entspricht weder dem Gleichheitsanspruch im Grundgesetz noch den zeitgenössischen Diskursen um Vielfalt. Welche Relevanz kann eine Filmkritik haben, die immer nur von derselben Elite verfasst wird? Das ist genauso uninteressant wie eine Filmlandschaft, die sich gegen den Einzug von weiblichen, queeren, Schwarzen und migrantischen Perspektiven sperrt. Und ist es nicht auch wenigstens ein bisschen peinlich, dass ausgerechnet die Berlinale, die sich in den letzten Jahren so eifrig mit Veranstaltungen zu Frauenquote und diverser Repräsentation schmückte, auf journalistischer Ebene vehement gegen genau diese Vielfalt sperrt?
Jetzt sagt die Berlinale, ok, schön und gut, aber wir bekommen ja die Rechte gar nicht, um die Filme online zu zeigen. Hm, doof, sehe ich ein. Dennoch ist die Frage überfällig, weshalb der gleichberechtigte Zugang zum Festival so selbstverständlich hinter dem Prestige großer Namen hintenan stehen muss. Zudem es ist schon eine immens bequeme Position, die Schuld auf andere zu schieben. Veränderungen brauchen Mut und in der Regel den Mut der Privilegierten. Dass die kleine feministische Filmreihe FILMLÖWINkino von vornherein so konzipiert wurde, dass alle Inhalte auch online rezipiert werden können, interessiert halt keine Sau. Aber was ist mit dem diesjährigen Sundance? Die Berlinale könnte hier kraftvoll und einflussreich mit positivem Beispiel vorangehen, das erste A-Festival sein, dass der Realität ins Auge blickt und sagt: „Ja, das Kino ist am schönsten im Kino, aber es wird nicht überleben, wenn wir es weiterhin nur einem kleinen Teil der Gesellschaft zugänglich machen. Wenn wir wieder großes Kino wollen, müssen wir auch großes Kino ermöglichen. Wir müssen sicherstellen, dass alle daran partizipieren, dass alle darüber berichten und davon lesen können. Wir müssen sicherstellen, dass ein Publikumsfestival auch das größtmögliche Publikum erreicht und nicht nur Menschen, die es sich leisten können, nach Berlin zu reisen, um dort für die besten Tickets vor dem Counter zu campieren. DAS ist unsere Aufgabe als Filmfestival. Und deshalb dürfen bei uns nur Filme laufen, die einem hybriden Modell zustimmen.“ Ja, dann wäre das Ganze halt weniger elitär und exklusiv, aber… DANN WÄRE DAS GANZE HALT AUCH WENIGER ELITÄR UND EXKLUSIV!
Welch Aha-Moment, welche Größe, welche bahnbrechende und zukunftszweisende Position! Und ganz nebenbei wäre die Berlinale allen anderen einen Schritt voraus auf dem ohnehin bereits vorgezeichneten Weg.
Stattdessen tut die Berlinale so, als wäre immer noch 1950, als würde Filmkritik nur von Männern betrieben, deren Frauen brav zuhause die Kinder hüten, als gäbe es keine Klimakrise, Corona sowieso nicht und überhaupt als würde sich niemand dafür interessieren, die Grenzen zwischen intellektueller Elite und querdenkendem „Pöbel“ aufzuweichen.
Alles hat mit allem zu tun, liebe Freund:innen der Kunst.
Die Berlinale 2022 – Ohne mich!
Natürlich interessiert sich niemand dafür, dass ich kleine feministische Kritikerin nicht an der Berlinale teilnehmen kann. Wobei: Vielleicht doch? Denn wer rezensiert jetzt die oftmals übersehenen Filme von Frauen und queeren Filmemacher:innen? Wer schenkt Themen wie Geschlechterrollen, Familie und Care-Arbeit in der Festivalberichterstattung die gebührende Aufmerksamkeit?
Als Redaktion haben wir darüber nachgedacht, ein Zeichen des Protests zu setzen und komplett auf eine Berlinale-Berichterstattung zu verzichten. Allerdings träfe das genau die eben genannten Filmemacher:innen, die zu unterstützen wir uns zur Aufgabe gemacht haben. Nichtsdestotrotz werden wir nicht die erhoffte Anzahl von Filmen abbilden können. Insbesondere jene Sektionen, für die eine Präsenzpflicht besteht – beispielsweise der Wettbewerb – werden bei uns deutlich zu kurz kommen oder schlichtweg gar nicht auftauchen. Wir bedauern das zutiefst. Ich bedaure das zutiefst. Aber als alleinerziehende Mutter in der Pandemie ist es mir schlichtweg nicht möglich, Vorstellungen zu besuchen beziehungsweise mich dem damit verbundenen Infektionsrisiko auszusetzen. Ich verfüge auch nicht über die Kapazitäten, mir jede Online-Filmsichtung einzeln über die zuständigen Sektionen oder PR-Agenturen zu organisieren, wie es die Berlinale vorgeschlagen hat.
Ja, ich bin wütend. Ich bin wütend und frustriert. Darüber dass sich nichts bewegt, dass wir als Gesellschaft aus der Pandemie nichts zu lernen scheinen, sondern dass im Gegenteil gesellschaftliche Spaltungen größer statt kleiner werden, Diskriminierung verstärkt, Ungerechtigkeit konsolidiert. Ich bin wütend und frustriert, dass es Kolleg:innen gibt, die lieber das Kino beweinen als die Toten, dauerhaft Erkrankten, traumatisierten Kinder und zerbrochenen Familien. Ich bin wütend und frustriert, dass ich als feministische Kritikerin in einem derart toxischen patriarchalen Umfeld tätig bin. Und ein bisschen beweine ich tatsächlich auch das Kino, weil auch das in einem derart toxischen, patriarchalen und elitären Setting zum Tode verurteilt ist. Wenn es wirklich um „großes Kino“ geht, liebe Berlinale und liebe Kolleg:innen, warum wollt ihr es dann unbedingt klein halten statt die Türen für alle zu öffnen?
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