FFHH 2020: Quo Vadis, Aida?

Gibt eins bei Google den Namen der bosnischen Stadt Srebrenica ein, dann erscheint auf Platz Eins der Ergebnisliste nicht etwa der geographische Wikipedia-Eintrag, sondern der Artikel der Online-Enzyklopädie zu dem Massaker unter der Führung von Ratko Mladić von der Armee der Republika Srpska (Vojska Republike Srpske, VRS), der Polizei und serbischen Paramilitärs, das 1995 in eben jenem Ort über 8000 Menschenleben forderte, von der UN als Genozid klassifizierte wurde und als eines der schlimmsten Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Erschreckend also, dass wohl den wenigsten Menschen außerhalb Bosniens der Name Srebrenica ein Begriff sein dürfte.

„Europa, Bosnien – Juli 1995“ lokalisiert Regisseurin Jasmila Žbanić ihren Film durch einen entsprechenden Untertitel zu Beginn. Und die Verortung „Europa“ ist wohl mehr als die Hilfestellung für ein internationales Publikum, um das Land Bosnien auf der Weltkarte zu entdecken. Žbanić verweist hier nämlich auch auf die Idee Europas als internationale Gemeinschaft des Zusammenhalts und der Solidarität und formuliert damit gleich im ersten Titel eine sehr subtile Anklage, die sich auch in der kritischen Position ihres Films gegenüber der UN widerspiegelt. Wo war denn dieses Europa und diese internationale Gemeinschaft 1995?

In Srebrenica nähern sich die serbischen Truppen der UN Schutzzone. Aida vermittelt als Übersetzerin zwischen der lokalen Regierung und den niederländischen Blauhelmen. Trotz deren Beteuerungen, bei Eindringen der Serben in die Schutzzone würde die UN mit einem Luftangriff reagieren, können die feindlichen Soldaten kurze Zeit später problemlos in die Stadt einmarschieren. Zehntausende Bosniaker:innen flüchten sich auf den UN-Stützpunkt, der jedoch nicht alle aufnehmen kann und darüber hinaus nicht über die notwenige Infrastruktur verfügt, um diese immense Menschenansammlung mit Nahrungsmitteln oder auch medizinisch zu versorgen. Das Angebot des serbischen Befehlshabers Ratko Mladić, die Zivilist:innen zu evakuieren, kommt da gerade recht. Doch Aida ahnt Schreckliches.

© farbfilm

Bis auf wenige Ausnahmen bleibt Jasmila Žbanić in Quo Vadis, Aida? der Perspektive ihrer Hauptfigur treu, die sich durch das zunehmende Chaos im UN Stützpunkt kämpft, um ihren Ehemann und die zwei Söhne in Sicherheit zu bringen. Dabei ist es vor allem die große Masse an Menschen, die auch auf visueller Ebene Bedrängnis auslöst. Immer wieder läuft Aida von einer Stelle zur anderen und kämpft sich dabei durch die Menge der Geflüchteten. Sobald sie sich jedoch in den Räumlichkeiten der Niederländer:innen aufhält, entsteht plötzlich auch visuell Raum und der Kontrast ist erschreckend. Er unterstreicht die (emotionale) Distanz der Soldat:innen zu den Bosniaker:innen. So wie die Serben hier die Menschen wie Vieh vor sich hertreiben und erschießen, organisieren auch die Blauhelme im Grunde nur eine anonyme Masse zu der sie letztlich nicht in Beziehung treten.

Žbanić erzählt insbesondere die emotionale Ebene ihrer Geschichte über Blicke und Blickrichtungen. Die Art und Weise wie die Menschen einander ansehen, ins Leere oder direkt in die Kamera schauen vermittelt nicht nur ihre Beziehung untereinander – Sorge, Misstrauen oder Feind:innenschaft – sondern auch eine für die Kinozuschauer:innen greifbare Emotionalität. Insbesondere Hauptdarstellerin Jasna Đuričić beeindruckt in diesem Zusammenhang mit einem differenzierten und subtilen Mienenspiel, das ohne künstlich zu dramatisieren deutlich spürbar ihre zunehmende Angst und Anspannung transportiert.

Es sind diese feinen, aber eindrücklichen emotionalen Stimmungen, die einen Großteil des Dramas von Quo Vadis, Aida? ausmachen. Wie schon in For Those Who Can Tell No Tales verzichtet Žbanić auch diesmal darauf, die Kriegsverbrechen visuell auszuerzählen und voyeuristisch auszuschlachten. Es genügt ihr, die uns ohnehin viel zu bekannten Bilder von Gewalt nur anzudeuten, um sie dann zuverlässig statt auf der Leinwand in unserem Kopfkino ablaufen zu lassen. An der Brutalität der serbischen Soldaten besteht kein Zweifel.

© Farbfilm

Quo Vadis, Aida? ist also kein Film, der auf visueller Ebene schockieren und mit entsprechenden Schauwerten „unterhalten“ möchte, sondern der eine Geschichte aus dem Krieg erzählt, die Geschichte eines Völkermords, eines weitestgehend vergessenen oder nicht beachteten Völkermords, der keine dreißig Jahre in der Vergangenheit liegt. Quo Vadis, Aida? ist aber, wie oben bereits erwähnt, auch ein Film, der überaus deutlich einen mahnenden Finger auf die UN richtet und die Verantwortung für den Genozid an den Bosniaker:innen von Srebrenica ganz klar auf die Vereinten Nationen schiebt. Und Quo Vadis, Aida? ist ein Film, der die grausame Absurdität des Krieges in Hinsicht darauf unterstreicht, dass aus Nachbar:innen Feind:innen und aus diesen Feind:innen schließlich wieder Nachbar:innen werden. Blicke der Skepsis werden zu Blicken der Angst und Verachtung werden zu Blicken von Misstrauen und Gleichgültigkeit. Und dazwischen liegt der Tod von über 8000 unschuldigen Menschen.

Wenn auch insgesamt konventioneller erzählt und darin auf eine (vielleicht zu) beruhigende Weise gefällig, führt Jasmila Žbanić ihre filmische Aufarbeitung der jüngeren bosnischen Geschichte mit Quo Vadis, Aida? auf eindrückliche Weise fort, setzt den Opfern des Völkermords von Srebrenica ein filmisches Denkmal und der Idee einer internationalen Solidargemeinschaft ein Mahnmal. Ein Mahnmal, das die Kraft hat, hier und heute – Europa, Moria 2020 – aufzurütteln.

Kinostart: Anfang 2021

Sophie Charlotte Rieger
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