FFHH 2015: Call Me Marianna

Drei Menschen an einem Tisch auf einer Theaterbühne: Ein Mann und eine Frau sitzen sich gegenüber und lesen einen Dialog. Eine weitere Frau sitzt am Kopf des Tisches im Rollstuhl. Sie scheint die Autorin zu sein, denn sie gibt auf Nachfrage Hintergrundinformationen zu dem männlichen Part.

Aber Marianna, die Frau im Rollstuhl, ist nicht nur die Autorin des gelesenen Stücks, sie ist auch seine Heldin. Die inszenierte Leseprobe erzählt in kurzen Sequenzen die Hintergrundgeschichte der Dokumentation von Mariannas Leben und füllt Lücken in der Narration. Insbesondere schildern diese Szenen die Beziehung zwischen Marianna, bzw. ihrem früheren männlichen Selbst, und der Ehefrau: von den ersten zögerlichen Versuchen, ihre Identitätskrise zu thematisieren, über die Entscheidung als Frau zu leben bis hin zur Trennung.

Die dokumentarischen Szenen zeigen Marianna allein. Sowohl die Eltern als auch die Exfrau sowie die Töchter haben den Kontakt zu ihr abgebrochen – aus Scham und Unverständnis. Regisseurin Karolina Bielawska ist ganz nah dran an den Emotionen ihrer Protagonistin und lässt auch das Publikum am Schmerz,© aber auch an der Freude Mariannas teilhaben. Die Glücksgefühle, die sie nach ihrer geschlechtsangleichenden Operation empfindet, springen auf die Zuschauer_innen über und lassen keinen Zweifel mehr daran, dass hier ein Mensch mit Hilfe der plastischen Chirurgie zu seinem wahren Selbst gefunden bzw. seinen Körper der eigentlichen Geschlechtsidentität angepasst hat.

© Film Republic

© Film Republic

Marianna gibt mit großem Mut Einblick in ihr Privatleben, in starke und schwache Momente. Auf der Metaebene aber schafft sie Distanz zu ihrer Figur, spricht in den Erläuterungen für die Schauspieler_innen von sich stets in der dritten Person und in der männlichen Form, auch wenn sie sich auf Ereignisse nach der Operation bezieht. Auf diese Weise wird ihre persönliche zu einer allgemeinen Geschichte. Es geht hier nicht nur um ein Einzelschicksal, sondern Marianna steht repräsentativ für die große Gruppe von Menschen, die sich mit ihrem biologischen, angeborenen Geschlecht nicht im Einklang fühlen. Nur in einem Moment kippt Marianna, vielleicht aus Versehen, in die Ich-Form: Sie erzählt von der Liebe zu ihrer Frau, dem anhaltenden Gefühl der Verbundenheit. Und Tränen treten in ihre Augen.

Es ist schwierig, vielleicht unmöglich Call Me Marianna zu sehen, ohne für die Protagonistin große Sympathie zu entwickeln. Dass Karolina Bielawska in den dokumentarischen Passagen gänzlich auf Texttafeln oder erläuternde Untertitel verzichtet, sondern mit der Kamera lediglich kommentarlos die Ereignisse in Mariannas Leben begleitet, verleiht ihrem Film große Authentizität und Ehrlichkeit. Lediglich die zuweilen recht gefühlsbetonte Musikuntermalung erzeugt eine bedauerlich inszenierte Emotionalität, die Mariannas Geschichte eigentlich gar nicht braucht. Unerwartet entwickelt sich die Geschichte von einem hoffnungsvollen Neuanfang in ein Drama: Vermutlich auf Grund einer selbstverschuldeten Überdosierung ihrer Hormone erleidet Marianna einen Schlaganfall, der ihre Pläne von einem neuen Leben zu zerstören droht.

Und so wird Call Me Marianna von einem Film über den Neuanfang einer Transfrau auch zu einem Film über die Rückkehr einer Schlaganfallpatientin ins Leben. Was beide Geschichten verbindet ist Mut und Kraft, das eigene Leben trotz gesellschaftlicher und körperlicher Widerstände in die Hand zu nehmen und ihm genau die Richtung zu geben, die mensch sich wünscht.

Mit ihrer ehrlichen Inszenierung hat Karolina Bielawska einen Film geschaffen, der Außenstehenden einen weitgehend objektiven Blick in das Leben von Transmenschen ermöglicht ohne zu belehren. Zumindest hoffe und glaube ich, dass Call Me Marianna einen Beitrag zu mehr Akzeptanz und Verständnis von Trans-, Intersexuellen und genderqueeren Menschen leisten kann.

Sophie Charlotte Rieger
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