DREI GEDANKEN ZU: UNHEIMLICH PERFEKTE FREUNDE
von Leena M. Peters
In einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt findet der zehnjährige Frido (Luis Vorbach) einen Zauberspiegel, aus dem er seinen „perfekten“ Doppelgänger hervorwünscht. Er ist nämlich nicht so gut in der Schule, anders als sein bester Freund Emil (Jona Gaensslen). Mit ihm zusammen will Frido eigentlich auf das Gymnasium gehen, und seine Mutter wäre bestimmt auch glücklicher mit einem „perfekten“ Frido…
1. Junge, Junge, Junge
Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen darüber reden: Diversität ist in Unheimlich perfekte Freunde Mangelware. Wo das Auge hinschaut, heterosexuelle weiße Menschen ohne Behinderung mit gut erkennbaren binären Geschlechteridentitäten. Aber das zu beheben wäre ja schon der zweite Schritt, denn der Film schafft es leider noch nicht einmal, aus der traditionellen Geschlechterverteilung auszubrechen und setzt fast ausschließlich Jungen* als Protagonisten ein. Frido, Emil und Sebi (Colin Badura) sind die drei Personen, um die sich die Handlung hauptsächlich dreht, gleichaltrige Mädchen* treten nur in Nebenrollen auf: die platonische Freundin Dunja (Cleo Dietmayr), die im späteren Konflikt jedoch kaum noch auftaucht, oder eine Angehimmelte, die sich von Emils unsympathischen Raufbold-Doppelgänger mehr beeindrucken lässt als vom sensiblen, klugen Original. Davon abgesehen treten Mädchen* nur noch als Klassenkameradinnen in Fridos Schule auf, in der sich eine Gesellschaft widerspiegelt, die Frido als feindlich und ablehnend wahrnimmt.
In Anbetracht dessen, dass nach einer Studie des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in 2015 als Jungen* gelesene und sozialisierte Kinder in der Schule größere Schwierigkeiten haben, würde es sich doch durchaus anbieten aus Fridos bestem Freund Emil eine Emilia zu machen! Stattdessen sind eben beide Enden des akademischen Leistungsspektrum männlich* besetzt. Das finde ich als Mutter einer Tochter, die genau im Alter der Protagonisten ist und an der ich durchaus auch die im Film dargestellten Symptome der Leistungsgesellschaft wahrnehme, besonders schade. Wir können als Eltern noch so sehr betonen, dass sich ihr Wert als Mensch nicht an ihren Zensuren bemisst: Das Bewusstsein, sich in einem durch Leistung definierten System zu befinden, prägt ihr Leben maßgeblich. Umso schöner wäre es gewesen, wenn ihr und ihren Geschlechtsgenossinnen in Marcus H. Rosenmüllers Film auch eine vollwertige Identifikationsfigur geboten würde.
2. Mütter machen alles falsch
Die Welt in Unheimlich perfekte Freunde ist in zwei klare Lager eingeteilt: Da wären auf der einen Seite die Kinder, die in der Schule unter Druck stehen und in der Freizeit ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Auf der anderen Seite gibt es die Erwachsene und die treten bemerkenswerterweise zum großen Teil als Frauen* auf, insbesondere als Mütter und Lehrerinnen. Dies spiegelt vielleicht das immer noch unausgeglichene Geschlechterverhältnis in der Versorgung und Erziehung von Kindern wider, doch Rosenmüllers Darstellung ist dennoch problematisch. Überwiegend sind es nämlich die Frauen* – die Mütter – die ihre Kinder daran hindern, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Fridos Mutter Gesa (Marie Leuenberger) beispielsweise lebt nicht mehr mit dem Kindsvater Michael (Serkan Kaya), einem Automechaniker, zusammen. Eindeutig steht der Vater mit seiner eher laxen Haltung und seinen handwerklichen Aktivitäten Frido gefühlsmäßig näher als die Mutter. Die Alleinerziehende, die immerhin Beruf und Leben mit einem Grundschulkind sowie die eigene Weiterbildung unter einen Hut bringt, ist zwar liebevoll, stülpt ihrem Sohn aber auch den eigenen Ehrgeiz über.
Genauso ärgerlich sind die Klischees, die in den anderen Frauen*figuren zum Ausdruck kommen. Emils Mutter (Maja Beckmann) hat als Prototyp der Überfürsorglichen nicht einmal einen Namen; sie macht ihren Sohn mit der Sorge um seine Gesundheit krank und, noch schlimmer, „verweichlicht“ ihn. Die Aufmüpfigkeit, die sich Emil bei seinem “perfekten” Doppelgänger wünscht, weist klar darauf hin, dass er sich nach einer stereotyp männlichen* Persönlichkeit sehnt, der seine Mutter im Wege steht. Insgesamt repräsentieren die Mütter einen Teil jener Leistungsgesellschaft, die die jungen Protagonisten in ihrer Freiheit beschränkt.
Und dann wäre da noch die Lehrerin Frau Klawitter (Margarita Broich) eine strenge, ältere Dame* ohne eigene Familie, der zwar der außerschulische Bezug zu den Kindern fehlt, die jedoch mit ihrem Urteil über deren zukünftigen Erfolg entscheidet. Die Väter sind, so vorhanden, nicht weniger klischeehaft, stellen jedoch in der Gegenüberstellung der zwei Welten von kindlicher Freiheit und erwachsener Begrenzung in Unheimlich perfekte Freunde nicht wie die Mütter den restriktiven Einfluss auf die freigeistigen Kinder dar. Stattdessen werden sie selbst als unreife Kindsköpfe gezeichnet, deren Handlungen und Erwartungen nicht einmal von ihrem Nachwuchs ernst genommen wird. Auch bei der Idee, Männer* würden nie zu echter kognitiver Reife gelangen oder als Väter stets hinter der Erziehungsfähigkeit der Mütter zurückstehen, ist freilich ebenfalls ein Klischee, das die Basis für eine sexistische Rollenverteilung in Haushalt und Familie bildet.
Der Wunsch nach den „perfekten“ Doppelgängern in Rosenmüllers Film ergibt sich aus dem gesellschaftlichen Druck, Erwartungen und vorgefertigten Schablonen zu entsprechen. Dass es nicht zu einer besseren Welt führt, diesen Erwartungen gerecht zu werden, erfahren zwar auch die Kinder – der eigentliche Konflikt jedoch besteht darin, dass die Erwachsenen, genauer gesagt ausschließlich die Mütter, ihre Kinder von den überhöhten Erwartungen befreien müssen. In Anbetracht der unendlichen Be- und Verurteilungen, denen Mütter grundsätzlich in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, ist das fast zynisch. Der Film reiht sich damit schlussendlich nur in den Chor jener Stimmen ein, die Müttern unablässig zurufen, dass sie nichts richtig, aber alles falsch machen können.
3. Gefühle erlaubt
Wenn es hinsichtlich der Anzahl und Darstellung Mädchen*- und Frauen*figuren in Unheimlich perfekte Freunde auch eine Menge Verbesserungspotential gibt, eines macht Rosenmüller aus feministischer Perspektive die meiste Zeit richtig: Toxische Männlichkeit* wird im Film nicht als erstrebenswerte Verhaltensweise dargestellt. Zwiespältig ist in dieser Hinsicht nur der Moment, in dem Emils Angehimmelte plötzlich Interesse an seinem rüpelhaften Doppelgänger zeigt. Kurz zuvor hat dieser einen drangsalierten Klassenkameraden gegen zwei ältere Jungen* verteidigt – ein lobenswerter Moment, aber eben auch ein aggressiver. Es geht bei der Attraktion als nicht (nur) um das Sozialverhalten, für einen anderen einzustehen, sondern vor allem um die stereotyp männliche* handgreifliche Intervention im Gegensatz zur verbalen weiblichen*. Damit wird wieder einmal behauptet, Mädchen* fänden Jungen* anziehender, wenn diese sich körperlich durchsetzen, und körperliche Gewalt als Männlichkeitsideal postuliert.
Davon abgesehen dürfen die männlichen* Protagonisten eine große Bandbreite an Gefühlen erleben und zum Ausdruck bringen. Schon die Prämisse des Films ist es ja, dass Frido gesellschaftlichen Druck spürt und fürchtet, seine Mutter mit mangelnder schulischer Leistung zu enttäuschen. Später muss er gar annehmen, dass er Gesas Zuneigung gänzlich an den „perfekten“ Doppelgänger verliert. Diese Empfindsamkeit und Verzweiflung bringt Luis Vorbach sehr einfühlsam auf die Leinwand. Beim emotionalen Höhepunkt, an dem Frido kurz davor ist, seine eigene Existenz völlig zugunsten des Doppelgängers aufzugeben und im Spiegel zu verschwinden, habe ich selbst als erwachsene Frau* eine mitfühlende Träne verdrückt. Aber auch die positiven Gefühle von Freundschaft und Freude dürfen die Jungen* ungehemmt und mit körperlicher Nähe darstellen. Angesichts des klar auf ein männliches Publikum zugeschnitten Films ist die positive Darstellung offen zur Schau getragener Gefühle besonders erfreulich, bricht sie doch mit dem stereotypen Bild des emotional zurückgenommenen oder doch zumindest zurückhaltenden Mannes.
Noch lange nicht perfekt
Es könnte nach diesen drei Gedanken der Eindruck entstehen, Unheimlich perfekte Freunde habe mir nicht gefallen, doch dem ist nicht so. Tatsächlich fand ich den Film für sein Zielpublikum – Kinder ab etwa 9 Jahren und ihre Eltern – sehr gelungen, da er ein wichtiges Thema aufgreift. Als Mutter sehe ich mich genau mit dieser Fragestellung konfrontiert: Wie viel Bedeutung messen wir den schulischen Leistungen unserer Kinder bei und mit wie viel Disziplin müssen wir sie fordern, ohne zu überfordern? Wie legen wir selbst auch als Eltern das Konzept „Erfolg“ aus: als akademische Leistungen, als finanziell entlohnte Karriere oder als das Gefühl, mit unserem Leben vollkommen zufrieden zu sein? Sind wir erfolgreich, wenn es uns gelingt, unser Leben so zu gestalten, dass wir unsere Bedürfnisse befriedigt sehen?
„Emanzipatorisch wertvoll“ ist Marcus H. Rosenmüllers Film aber leider nicht. Dafür steht er zu sehr in der Tradition eines klassischen “Jungsfilms” – schade, insbesondere bei zwei mitwirkenden Drehbuchautorinnen. Mit dieser Tradition zu brechen und Geschichten unabhängig von Geschlechterstereotypen zu erzählen, würde auch der Lebensrealität der Kinder im Publikum eher entsprechen. Und dabei kann der deutsche (Kinder)Film nur gewinnen.
Kinostart: 4. April 2019
- Die Eiskönigin 2 - 26. März 2020
- Zu Weit Weg - 11. März 2020
- ANIARA - 13. Februar 2020
Interessanter Text. Der Satz mit der „… vollwertigen Identifikationsfigur“ macht mich allerdings stutzig. Natürlich sollte man immer wieder hinterfragen, wie man welche Rolle in einem Film besetzt, bereits im Drehbuchstadium. Aber macht es wirklich Sinn, dem Publikum, das nicht das gleiche Geschlecht wie jene beschriebene Identifikationsfigur hat, abzusprechen, sich „vollwertig“ mit ihr zu identifizieren? Gibt es da wissenschaftliche Erkenntnisse in der Richtung? Es wäre doch wünschenswert und für mich absolut vorstellbar, das sich jeder und jede im Publikum mit einer gut erzählten Figur potentiell gleichermaßen identifizieren kann. Inwiefern eine „vollwertige Identifikation“ überhaupt einen Mehrwert böte, sei ohnehin dahingestellt…
Bei der Figur der Frau Klawitter fehlt mir zudem der Hinweis, dass sie im Lauf des Films zur Komplizin ihrer Klasse wird, was ihre Figur nicht unbedingt glaubwürdiger aber vielschichtiger macht, als sie hier erscheint.
Die kurze Antwort zuerst: Ja, Frau Klawitter wird am Ende zum Instrument der Rettung der Kinder – was die Beobachtung nicht falscher macht, dass es im Film vornehmlich die Frauen* sind, die lernen müssen, was für die Kinder wirklich wichtig ist. Fridos Mutter lernt ja auch dazu – aber der ganze Lernprozess spielt sich bei den Frauen* ab, die Männer*/Väter sind entweder von vorneherein schon unbeteiligt an der misslichen Lage oder eben abwesend oder lächerlich.
Zum ersten Thema muss ich leider anführen, dass aus dieser Vorstellung, dass doch jede•r sich in jede•r Identifikationsfigur repräsentiert sehen können sollte, das Privileg zu sprechen scheint: Wer als Mann* in unserer Gesellschaft aufwächst, kennt die Situation nicht, sich permanent über die Geschlechteridentität hinweg mit Figuren identifizieren zu müssen – oder über andere Identitätsgrenzen, wie Trans- oder Cis-Identität, Ethnie oder sexuelle Orientierung. Studien und Belege gibt es ausreichend dafür, welche Folgen mangelnde Diversität auf die Menschen hat; es hilft nur, den Betroffenen zuzuhören und vor allem Glauben zu schenken, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, welches Geschlecht, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung eine Heldenfigur hat, mit der sich ein•e Zuschauer•in identifizieren soll/möchte. Jeder Unterschied bringt größere Distanz zwischen Zusachauer•in und Protagonist•in, die die „Andersartigkeit“ – und damit ‚Nebensächlichkeit‘, also Marginalisierung – verstärkt.
Ich verweise hier gerne auf die MaLisa Stiftung, die sich mit diesem Thema für den deutschen Film beschäftigt, nach dem Vorbild des Geena Davis Institute on Gender in Media („If she can see it, she can be it.“). Ansonsten würde ich bei ausreichender Kenntnis der englischen Sprache empfehlen, die Worte „representation matters“ zu googlen und sich mit den Artikeln zu befassen, die zu diesem Schlagwort zu finden sind.
Zum Schluss vielleicht als Idee der Vorschlag, mal über eine lange Zeit nur Filme zu schauen, in denen die Heldenfigur in mindestens einer Hinsicht nicht mit der eigenen Wahrnehmung übereinstimmt. Erstens wird dabei wahrscheinlich deutlich, wie schwierig die Auswahl wird, insbesondere an ‚großen‘ Hollywood-Filmen (die schlicht über das Erreichen der Masse einen großen Teil zur Prägung unserer Gesellschaft beitragen), und zweitens entsteht dabei vielleicht ein Eindruck der Distanz, die beim Versuch der Identifikation überbrückt werden muss. Material ist hier auf der Seite ja ausreichend im Angebot. 🙂