Drei Gedanken zu: Die Fabelmans

In Die Fabelmans erzählt Steven Spielberg semi-autobiografisch von seiner Kindheit und Jugend. Er erzählt von seiner Liebe zum Film und der langsam bröckelnden Ehe seiner Eltern. Zwischen den Zeilen beschäftigt er sich dabei mit Mutterschaft, Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung und ist überraschend wenig an der eigenen Mythenbildung interessiert.___STEADY_PAYWALL___

Der junge Sammy Fabelman benutzt seine Hände als Leinwand für einen Film.

Mateo Zoryan Francis-DeFord als junger Sammy Fabelman in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

Sam Fabelman (Mateo Zoryan Francis-DeFord) ist vielleicht fünf, sechs Jahre, als ihn seine Eltern, Mitzi (Michelle Williams) und Burt (Paul Dano) zum ersten Mal ins Kino mitnehmen – gezeigt wird Die größte Schau der Welt (Cecil B. DeMille, 1952). Das Erlebnis schockiert Sam nachhaltig – wochenlang verfolgen ihn die Bilder in seinen Träumen. Es ist aber auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit dem Kino. Sams Leidenschaft fürs Filmemachen wird zum inoffiziellen Familienmitglied und begleitet die Fabelmans von New Jersey nach Arizona und später nach Kalifornien. Die Welt bleibt jedoch nicht für immer heil – als Teenager beobachtet Sam (Gabriel LaBelle) die wachsenden Risse in der Ehe seiner Eltern und die Rastlosigkeit seiner Mutter, die für die Familie eine Karriere als Pianistin aufgegeben hat.

Bei genauerem Hinsehen: Frauenfiguren in Die Fabelmans

Die Fabelmans konzentriert sich auf seinen männlichen Hauptcharakter. Mit Ausnahme von Sams Mutter Mitzi bleiben die weiblichen Figuren im Hintergrund. Bei genauerem Hinsehen liefern Sams Schwestern Reggie (Julia Butters), Natalie (Keeley Karsten) und Lisa (Sophia Kopera) aber eine Art Meta-Kommentar – wie der Chor in einer griechischen Tragödie. Insbesondere Reggie nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie kritisiert vollkommen zurecht, dass es in Sams Filmen keinen Platz für weibliche Figuren gibt: „Dreh’ doch mal einen Film mit Rollen für Mädchen. Vielleicht kann mal eine Frau wie Welt retten.” Dieser Schlagabtausch kann als bloßer Zank zwischen Geschwistern abgetan werden, entblößt aber auch den Mangel an weiblichen Hauptfiguren in Spielbergs eigenen Filmen und im Hollywood-Kino allgemein.

(von links nach rechts) Natalie Fabelman (Keeley Karsten), Lisa Fabelman (Sophia Kopera) und Reggie Fabelman (Julia Butters) bei einem Camping-Trip in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

(von links nach rechts) Natalie Fabelman (Keeley Karsten), Lisa Fabelman (Sophia Kopera) und Reggie Fabelman (Julia Butters) in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

Auch die Dynamik zwischen Sam und seiner ersten Freundin Monica (Chloe East) ist komplexer als die Prämisse des Films es zunächst vermuten lässt. Monica findet Jesus genauso heiß wie Elvis Presley und hat kein Interesse daran, Sams erste große Liebe zu sein. Für sie ist klar: Mit der Highschool endet auch die Beziehung. Als Sam ihr beim Prom einen Heiratsantrag macht, ist sie schockiert und wütend, fühlt sich von seinen Avancen eingeengt. Die stereotype Genderdynamik ist hier umgedreht: Sam klammert sich an Monica, die keine ernste Beziehung möchte.

Große Erwartungen: Mutterschaft und Kunst in Die Fabelmans

Auf den ersten Blick steht Mitzi als Pianistin für Kunst und Burt als Informatiker für Technik – die zwei Hauptkomponenten des Kinos. Sam wäre damit die Synthese seiner Eltern. Doch Die Fabelmans ist mehr als ein Film übers Filmemachen. Anstatt bloßer Plattitüden über die Magie des Kinos geht es um Selbstverwirklichung und Selbstverleugnung.

(von links nach rechts) Sammy Fabelman (Gabriel LaBelle) in seiner Pfadfinder-Uniform und Mitzi Fabelman (Michelle Williams) in Die Fabelmans

(von links nach rechts) Sammy Fabelman (Gabriel LaBelle) und Mitzi Fabelman (Michelle Williams) in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

Sam ist innerlich und äußerlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Filme zu machen und der Erwartung, einen „richtigen” Job zu lernen, etwas zu tun, das „tatsächlich einen Nutzen für die Menschheit hat”, wie Burt sagt. Sam weiß, was er will – er liebt es, Filme zu drehen – aber er hat Angst davor, seinen Vater zu enttäuschen und zweifelt an sich selbst. So weit, so klischeehaft. Kunst auf der einen und gesellschaftliche Erwartungen auf der anderen Seite gehören zur Künstler:innen-Biografie wie die Verfolgungsjagd zum Actionfilm.

Michelle Williams als Mitzi im Auto (einem klassischen amerikanischen Muscle-Car in Türkis)

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In Die Fabelmans durchlaufen Mitzi und Sam eine ähnliche Entwicklung. Sams innere Zerrissenheit spiegelt den Zwiespalt seiner Mutter wider. Denn auch Mitzi sieht sich mit dem Entweder-oder gesellschaftlicher Erwartungen konfrontiert. Sie und Burt leben eine relativ konventionelle Ehe, in der Mitzi ihre „Pflichten” als Hausfrau und Mutter erfüllt und ihre Karriere als Pianistin aufgegeben hat. Je mehr Zeit ins Land geht, desto deutlicher wird: Die Ehe erfüllt Mitzi nicht, die beiden passen nicht zueinander. „Dad verehrt und bewundert Mum,” sagt Reggie zu Sam. „Vielleicht ist es einfach schwer, von jemandem verehrt zu werden.”

Sammy filmt seine zwei Schwestern und seine Mutter beim Camping. Mitzi schneidet für die Kamera eine Grimasse.

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Burts Freund Bennie (Seth Rogen) ist Teil der Familie, je größer die stille Kluft zwischen Burt und Mitzi wird, desto näher kommen sich Mitzi und Bennie. Doch Mitzi wagt es zunächst nicht, aus der Rolle der Mutter hinauszutreten. „Ich werde es nicht allen anderen verderben,” sagt sie halb verzweifelt. „Ich werde nicht egoistisch sein.” Die Familie zieht nach Kalifornien – ohne Bennie. Mitzi kann nicht verstecken, wie unglücklich sie darüber ist und schließlich entscheiden sie und Burt sich für eine Scheidung.

Free to Be… You and Me: Scheidung als Befreiung

Ein Blick auf Steven Spielbergs Filmografie zeigt, dass ihn die Scheidung seiner Eltern Leah und Arnold beschäftigt hat. In Filmen wie E.T.  der Außerirdische (1982) stehen Kinder im Mittelpunkt, deren Eltern sich getrennt haben und die so sehr mit ihrem erwachsenen Leben beschäftigt sind, dass darin kaum Platz für die Kinder bleibt. In Die Fabelmans  ist die Scheidung der Eltern – so schwierig sie für Sam und seine Schwestern ist – eher ein Befreiungsschlag als ein traumatisches Erlebnis. Manchmal, so scheint der Film zu sagen, müssen Menschen enttäuscht werden, damit es vorwärts geht.

(von links nach rechts) Burt Fabelman (Paul Dano), der junge Sammy Fabelman (Mateo Zoryan Francis-DeFord) und Mitzi Fabelman (Michelle Williams) während einer Kinovorstellung in Die Fabelmans, co-written and directed by Steven Spielberg © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

(von links nach rechts) Burt Fabelman (Paul Dano), der junge Sammy Fabelman (Mateo Zoryan Francis-DeFord) und Mitzi Fabelman (Michelle Williams) in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

„Das ist das Egoistischste, was ich je getan habe,” sagt Mitzi zu Sam. „Aber du bist niemandem dein Leben schuldig.” Mitzi mag denken, dass sie egoistisch ist, doch sie macht Sams Entscheidung, eine Laufbahn in der Filmindustrie einzuschlagen, erst möglich. Und zwar nicht, weil sie ihn still durch ihre Selbstaufopferung unterstützt hat, sondern weil sie ihm vorlebt, dass Erwartungen enttäuscht werden dürfen – hier weicht Die Fabelmans angenehm vom gegenderten Narrativ männlichen Schaffens und weiblicher Hingabe ab. Sam hätte den Weg in Richtung Selbstverwirklichung nicht gehen können, wenn Mitzi ihn nicht zuerst gegangen wäre.

(von links nach rechts) Monica Sherwood (Chloe East) und Sammy Fabelman (Gabriel LaBelle) beim gemeinsamen Beten in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

(von links nach rechts) Monica Sherwood (Chloe East) und Sammy Fabelman (Gabriel LaBelle) in Die Fabelmans © Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

Damit setzt der Film auch dem Narrativ des betrogenen Ehemanns, das Hollywood sonst so liebt, etwas entgegen. Wir fühlen für Burt, fühlen, wie schmerzhaft es ist, mehr zu lieben als geliebt zu werden. Mitzi ist aber nicht einfach untreu, sondern mutig genug, anstatt ihrer selbst ihre Ehe aufzugeben. Das ist heute noch genauso relevant wie vor fünfzig Jahren, denn weiterhin wird von Frauen in der Mutterrolle komplette Hingabe erwartet.

Porträt des Künstlers als junger Mann

Ganz grundsätzlich fragt sich natürlich, ob es einen Film über den Aufstieg des Sammy Fabelman/Steven Spielberg braucht. Die Antwort ist: nicht wirklich. Wo bleiben die Biopics über Filmemacherinnen, über Dorothy Arzner, Polly Platt, Nora Ephron, Barbara Streisand oder Jane Fonda? Während Spielberg seine Biografie mit einem Budget von 40 Millionen US-Dollar verfilmen konnte, und (nahezu) automatisch Oscar-Nominierungen für den besten Film und die beste Regie erhielt, bekommen Filmemacherinnen nach wie vor nur selten die Chance, ihre Geschichten – geschweige denn ihr Leben – auf der großen Leinwand zu erzählen.

Sammy führt bei seinem Prom einen Kurzfilm über den Jahrgang vor.

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Die Fabelmans ist weder notwendig noch ein feministisches Manifest – für eine Erzählung, die sich vor allem auf den Werdegang der männlichen Hauptfigur konzentriert, streift er dennoch feministische Themen und erzählt überraschend klischeefrei von Mutterschaft. Allerdings verhandelt er seine Themen stellenweise so subtil, will – paradoxerweise – niemanden vor den Kopf stoßen, dass vieles im Auge der Betrachtenden liegt. Einige der potenziell radikalen Aussagen sind deshalb leicht zu ignorieren und mehr Mut zum Eigensinn wäre wünschenswert gewesen.

Kinostart: 9. März 2023

Theresa Rodewald