Drei Gedanken zu: The Bikeriders

Ein Vorort von Chicago 1965: Einfache Häuser, Holz und Backstein, stahlgraue Gittertore statt weißer Lattenzäune – Arbeiterviertel. Es ist die Blütezeit des amerikanischen Traums. Wohlstand für alle – alle, die dazugehören, die sich anstrengen, die sich anpassen.___STEADY_PAYWALL___

Gegen diese erstarrte Idylle regt sich Widerstand: Vorläufer der künftigen Counterculture strecken vorsichtige Fühler aus. Zum Beispiel in Form von Motorradclubs – ein dreckiger, lauter, rüpelhafter Gegenentwurf zum weiß-getünchten Vorstadtleben. Hierarchisch organisiert, mit Uniform und eigenen Regeln, zelebrieren sie Biertrinken, Prügeleien und Verkehrsdelikte – sie ziehen Veteranen an und Leute, die anderswo anecken. Vor allem aber sind sie eine Gemeinschaft, eine Familie, eine Gang.

Eine Landschaftsaufnahme: Am linken äußeren Rand lehnt Benny (Motorrad-Kutte, blondes Haar, cool) an seinem Motorrad. Zu seiner Rechten erstreckt sich die Straße. Im Hintergrund am rechten Rand sind sehr klein zwei Polizeiautos zu sehen. Austin Butler spielt Benny in The Bikeriders © 2024 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2024 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

In diesen Mikrokosmos der Männlichkeit tritt Kathy (Jodie Comer). Aus dem Off – in Interviews mit dem Fotografen und Journalisten Danny Lyon (Mike Faist) – erzählt sie von Benny (Austin Butler), Johnny (Tom Hardy) und den Vandals, die sich im Laufe der 1960er-Jahre von einem Motorradclub zu einer Motorradgang, von einer Freizeitbeschäftigung hin zu organisierter Kriminalität entwickeln.

Biker, Gangster und der weibliche Blick

Kathy leiht The Bikeriders ihre Stimme und ihren Blick. Das allein ist schon ein voller Erfolg, denn FLINTA kommen in dieser Art Film (Biker, Gangster, Männlichkeit) allzu oft nur am Rande und als Lustobjekt vor. Erzählen dürfen sie Geschichten wie diese in der Regel nicht.

Benny (mittig im Bild, und in einem ärmellosen T-Shirt) stützt sich lässig auf einem Billiardtisch ab © 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

Durch Kathys Augen wirkt das Machogehabe der Biker zugleich sonderlich und aufregend, ist der Club albern und anziehend. Einer hat es ihr besonders angetan: Benny – mysteriös, umwerfend und anders als die anderen. Sein Haar ist stets perfekt zerzaust, seine Oberarme werden superb in Szene gesetzt, seine Stimme klingt irgendwie näher und tiefer als die der anderen Figuren. Es könnte kaum deutlicher werden, wer in diesem Film das Objekt der Begierde ist.

Ein Close-Up von Kathy. Sie hat rot-blondes Haar, das sie in typischer 60er-Jahre Manier hochgesteckt und mit schrägem Pony trägt. Sie trägt einen ärmellosen Rollkragenpullover. Im Hintergrund ist die Küche ihres Wohnhauses undeutlich sichtbar. Jodie Comer spielt Kathy in The Bikeriders © 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

Kathy heiratet Benny nach fünf Wochen sehr befremdlichen (da Stalker-haften) Umwerbens. Das gemeinsame Leben dreht sich um den Motorradclub. Der wiederum wird von Johnny angeführt. Es entwickelt sich eine eigenartige Dreieckskonstellation, um die Kathy weiß und die Johnny fest entschlossen ignoriert. Beide ringen um die Aufmerksamkeit von Benny – Kathy will ihn, Johnny will – so sagt Kathy – sein wie er.

Rebel with a cause: Männlichkeit, Performance und Community

In Johnny bricht sich die performative, die maskenhafte Qualität der Motorradgang. Er lebt die bescheidene Version des amerikanischen Traums (Eigenheim, Familie, Job), bis er im Fernsehen Marlon Brando in The Wild One sieht. Danach ist es um ihn geschehen. Er gründet einen eigenen Motorradclub und bricht aus diesem perfekten, leeren Leben aus. Die Motorräder, die Lederkluft, die pomadisierten Haare sind also von Beginn an eine nostalgische Fantasie, eine Illusion starker, rebellischer, lauter Männlichkeit.

Medium Close-Up: Mittig im Bild Brucie und rechts daneben Johnny. Johnny hat eine Zigarette im Mundwinkel. Beide tragen schwarze Lederjacken und haben ihr Haar im 60er-Jahre-Stil zurückgekämmt. Damon Herriman spielt Brucie und Tom Hardy spielt Johnny in The Bikeriders. © 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

Und mehr: Denn unter den Lederjacken, zwischen Aufschlägen der umgekrempelten Jeanshosen und den Doo-Wop-Harmonien im Radio ist noch etwas. Es wird übertönt vom Röhren der Motoren. Es ist ungedacht, unausgesprochen, ungestillt. Es ist Marlon Brando in engen Jeans und kurzer Lederjacke, tough und sexy und schon damals eine queere Ikone. Es ist Leder als Fetisch und zur Schau gestellte Männlichkeit als schwules Lustobjekt. Die Schmiere in den Haaren und auf der Kleidung ist Teil einer Performance, einer Maske. Ein Vorwand, um Zeit mit anderen Männern zu verbringen. Dahinter: Ein Bedürfnis nach Nähe.

Medium Close-Up von Benny (links) und Johnny (rechts). Benny ist halb von uns abgewandt, sein Gesicht liegt im Schatten. Johnny steht im gegenüber, schaut in aber nicht an. Das Bild ist dunkel und die beiden nur schemenhaft zu erkennen. © 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

Johnny, die Vandals, selbst Kathy – brechen aus einem Käfig aus, um sich in einen anderen wieder einzusperren. Kathy durchschaut das Getue und die Maskierung und hat doch nichts anderes zu bieten als den Traum von einem ruhigen Vorstadtleben in Florida. Genau das Leben also, dem Benny und Johnny entkommen wollen. Die Figuren in The Bikeriders können sich nur den Kreislauf aussuchen, in dem sie gefangen sind. Denn die Strukturen, das patriarchale Denken, haben sich nicht geändert.

Freiheit, Breiheit, Motorradgang

So weit, so interessant. Nur ist die Figur, um die sich alles dreht, leider nicht viel mehr als eine Projektionsfläche. Benny ist so mysteriös und so unergründlich, dass er unfassbar bleibt. Er ist ein Vakuum, ein schwarzes Loch im Herzen dieses Films. Will er Motorrad fahren? Freiheit? Brüderlichkeit? Kathy sagt, dass er keine Gefühle hat. Das, so zeigt sich, stimmt nicht ganz. Kann er Gefühle nur nicht äußern? Will er nicht? Als Kathy ihn bittet, die Gang aufzugeben, sagt er: „Was denkst du, ist das hier?” Gute Frage, Benny!

Johnny (links) und Benny (rechts) sitzen im Gras und lehnen sich an ihre Motorräder. Johnny trägt ein rotes Hemd und eine Jeansjacke. Benny trägt ein schwarzes T-Shirt und eine Lederjacke mit Jeansweste darüber. Er hat Blut im Gesicht und eine Zigarette im Mundwinkel. © 2024 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2024 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

Während Johnny Marlon Brando imitiert, scheint Benny ein waschechter Biker zu sein. Seine Gewalt ist Eigennutz, seine Angst vor Verantwortung ebenso groß, wie sein Drang nach Freiheit. (Freiheit von was?) Es ist nicht klar, ob The Bikeriders zeigen will, dass dieses Männlichkeitsideal unerreichbar, problematisch und trotzdem attraktiv ist oder ob, er – wie so viele Bikerfilme – Motorräder, Lederkluft und klare Rollenverteilung einfach nice findet. Ganz nebenbei schwingt mit, dass viele Mitglieder der Gang Veteranen sind – also geht es vielleicht um Kriegstrauma und PTBS?

Der Film ist stellenweise bis zur Unkenntlichkeit ambivalent, er reproduziert die Bilder, die er zu kritisieren vorgibt, er bemüht alle Klischees. Regisseur und Drehbuchautor Jeff Nichols zitiert Martin Scorsese in Freeze Frames, Voiceover und Kamerafahrten und gelangt doch nie an die emotionale Ehrlichkeit, an das Spannungsverhältnis von Hilflosigkeit und Gewalt, performativer Männlichkeit und greifbarer Verletzlichkeit, das sich durch Scorseses Gangsterfilme zieht.

Ein Close-Up: Kathy (links) fährt mit Benny (rechts) Motorrad. Sie hält sich an ihm fest und hat ihr Kinn auf seine Schulter gelegt. Ihre Augen leuchten. Jodie Comer spielt Kathy in The Bikeriders © 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

Wir sehen die Vandals durch Kathys Augen, doch als Figur bleibt auch sie merkwürdig unnahbar. Sie spricht nur und immer über Benny und die Vandals, kaum über sich selbst. Benny sammelt Verkehrsdelikte wie Briefmarken – hat einen Gerichtstermin nach dem anderen und muss ständig Strafen zahlen. Nur ein einziges Mal wird es Kathy zu viel – natürlich geht es da um Bennys Wohlergehen und nicht um ihr eigenes.

Queerness, Mainstream und binäres Denken

The Bikeriders ist nach Challengers die zweite große Dreiecksgeschichte dieses Jahr – beide Filme bringen die Tragödie der Heteronormativität, die sonst als Subtext zwischen den Zeilen vegetiert, an die Oberfläche. Wie kürzlich The Iron Claw beschäftigt sich The Bikeriders außerdem mit toxischen Männlichkeitsidealen – auch wenn die Kritik undeutlich ausfällt. In allen drei Filmen geht es um Männlichkeit, Heterosexualität und Gender – gleichzeitig sind sie darauf erpicht, ein (cis-hetero) Mainstream Publikum anzusprechen.

Ein Bungalow-artiges Gebäude in Flammen. Das Dach brennt, der Gehsteig brennt. Mittig davor zwei Personen von hinten. Sie schauen den Flammen zu. Rechts und links von ihnen Motorräder. © 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

© 2023 Focus Features, LLC. All Rights Reserved.

In Interviews sagt Bikeriders-Regisseur Jeff Nichols, dass Johnny sich nicht sexuell zu Benny hingezogen fühlt. Fine – vielleicht will Johnny nichts Körperliches von Benny, aber irgendetwas will er schon und anscheinend überschreitet er damit auch eine Grenze. Deshalb das Ziehen und Zerren mit Kathy, deshalb die Sprachlosigkeit, wenn sie ihn am Ende fragt, was er braucht. Queerness, allerdings ist mehr als Sex. Es ist anders sein und anders leben und ja, auch anders lieben. Nichols kennt anscheinend nur straight aka „Ich will sein wie er und hier gehts nur um die Gang” oder queer aka Sex. Und hier ist das Problem: Er denkt binär im Entweder-oder: sexuell/nicht sexuell, Mann/Frau, Kathy/Benny, hetero/nicht-hetero. Das verwässert die Botschaft des Films und macht ihn am Ende konventioneller als nötig.

Ab 20. Juni 2024 im Kino

Theresa Rodewald