Harvest – Interview mit Athina Rachel Tsangari

Irgendwo in England, irgendwann im 18. Jahrhundert – die kleine, abgeschlossene Dorfgemeinschaft hat gerade die Ernte abgeschlossen, als erst ein Gebäude des Gutsbesitzers in Brand gesetzt wird und kurz darauf drei Fremde auftauchen. Das Dorf reagiert mit Gewalt: Die beiden Männer werden an den Pranger gestellt, der Frau, Mistress Beldam (Thalissa Teixeira), werden brachial die Haare geschoren. Plötzlich tritt der eigentliche Gutsbesitzer, Master Jordan (Frank Dillane), mit seiner Entourage und dem Kartografen Quill (Arinzé Kene) auf. Das Dorf wird vermessen, Felder, Wälder, Hügel und Seen werden benannt, die unabhängig-unbändige Natur soll Weideflächen weichen, für Schafe und die Wollproduktion. Innerhalb weniger Tage wird die Dorfgemeinschaft einem als Fortschritt getarnten Kapitalismus weichen.

Filmstill aus Harvest: Eine Person von hinten, die in einem Weizenfeld steht, ein rotes Tuch um die Schulter geschlugen hat und einen großen braunen Schlapphit trägt.

© Jaclyn Martinez / Mubi

In Harvest verfilmt Athina Rachel Tsangari den gleichnamigen Roman von Jim Crace – statt sich eng an die Buchvorlage zu halten, erzählt die Regisseurin die letzten Tage der Dorfgemeinschaft in atmosphärisch-psychedelischen Bildern. Filmlöwin spricht mit Athina Rachel Tsangari über die Premiere beim Internationalen Frauen Film Fest in Dortmund, den Umgang mit (sexualisierter) Gewalt und Hierarchien beim Filmemachen.___STEADY_PAYWALL___

Du hast Harvest vor Kurzem beim Internationalen Frauen Film Fest (IFFF) in Dortmund präsentiert. Hat sich die Vorführung im Rahmen dieses Festivals, das sich ausschließlich weiblichen Filmschaffenden widmet, anders angefühlt? Wie war die Stimmung?

Es war großartig. Ich war schon einmal hier – mit meinem Film Attenberg, der damals sogar den Spielfilmpreis gewann. Umso schöner ist es, jetzt mit Harvest zurückzukommen. Hier sind so viele starke und kluge Frauen. Das Q&A gestern Abend war für mich sehr bewegend – zum ersten Mal drehten sich die Fragen nicht um die männlichen Figuren, sondern um die Frauen im Film. Besonders um Mistress Beldam als Symbol für das Andere: die Person of Colour, die Außenseiterin, die Hexe, die Verführerin, das Objekt der Begierde – und schließlich die Rächerin. Es war das erste Mal, dass ich all das mit einem Publikum besprechen konnte. Wir haben zum Beispiel auch darüber gesprochen, wie Thalissa Teixeira, die Mistress Beldam spielt, und ich die Figur entwickelt haben. In der Buchvorlage gab es sie so nämlich nicht.

Filmstill: Mistress Beldam mit kurz geschorenen Haaren steht auf einer Wiese.

© Jaclyn Martinez /Mubi

Dafür gibt es im Buch viel Gewalt gegen Frauen, auch sexualisierte Gewalt. Die kommt im Film zwar vor, wird aber nicht explizit gezeigt.

Die sexualisierte Gewalt im Buch ist extrem explizit – seitenlang werden die beiden Frauen, Kitty und Anne, vergewaltigt. Auch das Mädchen Lizzie wird missbraucht. Ich wusste von Anfang an, dass ich das nicht so darstellen will. Gewalt gegen Frauen kann – gerade im Kino – schnell zum Selbstzweck und Fetisch werden. Ich wollte das nicht nur nicht zeigen, ich wollte, dass es gar nicht erst passiert. Im Film stelle ich es jetzt so dar, dass die Frauen in einer Gemeinschaft von letztlich ohnmächtigen Männern leben. Sie sind die Einzigen, die überhaupt Wut empfinden und etwas mit dieser Wut tun. Auch wenn sie sich letztlich nicht retten können, leisten sie mit ihren Körpern und ihren Stimmen Widerstand.

Gewalt gegen Frauen kann – gerade im Kino – schnell zum Selbstzweck und Fetisch werden.

Mit Mistress Beldam gibt es ein Gefühl von weiblicher Solidarität, eine Art unausgesprochene Verbundenheit. Kitty schneidet Beldam am Anfang des Films zwar die Haare ab und ist damit diejenige, die das Demütigungsritual anführt, gleichzeitig ist da aber auch Empathie, ein Erkennen – beide Frauen sind objektivierte Wesen. Am Ende übernimmt Beldam die Kontrolle und befreit Kitty und Anne. All das haben meine Co-Autorin Joslyn Barnes und ich gegenüber der Buchvorlage verändert. In den Proben – vor allem mit Rosy McEwan und Thalissa Teixeira – haben wir die Szenen intensiv erarbeitet. Fast wie eine Choreografie, zum Beispiel als Beldams Haare geschnitten werden – was Thalissa tatsächlich selbst wollte. Es war ihr echtes Haar.

Filmstill: Die Bewohnenden des Dorfes beim Löschen eines Feuers.

© Jaclyn Martinez /Mubi

Das hat die Szene für mich sehr einprägsam gemacht – es war umso gewaltvoller, weil ihr tatsächlich die Haare abgeschnitten wurden.

Das war die erste Szene, die wir gedreht haben. Für uns alle hat sich das wie ein Übergangsritus angefühlt. Als sie sich entschieden hatte, ihr Haar wirklich abzuschneiden, war klar: Wir drehen zuerst diese Szene. Und das war auch richtig so – denn sie setzt den Ton für den ganzen Film. Das Interessante war auch: Cast und Crew wussten nicht, dass wir ihr wirklich die Haare abschneiden. Die Reaktionen der Darstellenden auf das Geschehen sind echt – zwischen Entsetzen und Faszination…

…das ist ein seltsames Zuschauen, die Leute beobachten einfach nur.

Genau, sie beobachten nur. Mich hat interessiert: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Was bedeutet es, in einer Gesellschaft zu leben? Und wie zerbricht das Gemeinsame – in nur einer Woche? Diese auf sich selbst gestellte Gemeinschaft fand ich sehr spannend. Das ist ein autonomes System, das nach einer emotionalen und wirtschaftlichen Tauschwirtschaft funktioniert: Ich gebe dir meinen Körper, du machst mir ein Kind. Ich gebe dir Wolle, du gibst mir einen Kürbis. Und plötzlich gibt es diese Störung, fast biblisch: Das Paradies beginnt, sich selbst zu zerstören. Die Erde wird unfruchtbar, sie wissen, dass das Ende kommt. Und dann ist da auch noch die Außenwelt – laut, groß, bedrohlich. Und in diese Situation kommen die drei Fremden, die nicht aussehen wie Dorfbewohner*innen. Sofort reagiert die Gemeinschaft mit Abwehr, mit Gewalt.

Filmstill aus Harvest: Zwei Personen am Pranger, eine dritte, rot gekleidete Person lehnt soch zu ihnen hinunter.

© Jaclyn Martinez /Mubi

Die Gewalt im Film – auch die angedeutete Gewalt gegen Frauen – fühlt sich nicht unvermeidlich an. Viele Filme oder Bücher, die in der Vergangenheit spielen, stellen Gewalt als gottgegeben dar: Das war früher eben so. Aber hier fühlt es sich wie eine Entscheidung an. Der Film fragt, wieso Menschen Gewalt anwenden.

Für mich ist die Gewalt nicht „mittelalterlich“. Ich habe Harvest nie als Historiendrama gesehen, sondern als eine absolut zeitgenössische Erzählung. Diese Denkweise – diesen Zeitgeist – gibt es ja immer noch. Es ist wie wenn man in Athen auf der Straße afghanische Geflüchtete sieht und sofort denkt, die wollen einen ausrauben – und dann zur Polizei geht. Diese tägliche ritualisierte Gewalt – wir nennen sie nicht so, aber sie ist Teil unserer „zivilisierten“ Gesellschaft.

Felder wurden in Weiden verwandelt, für Schafe (…). Und heute ist es nicht anders: AI ist das neue Schaf. 

Diese Menschen im Film versuchen, ihr kleines Stück Land zu schützen, das sowieso schon erschöpft ist. Und auch Master Jordan ist nicht „böse“ – er denkt, er bringt Fortschritt. Er ersetzt Menschen durch Schafe und denkt sich, die können in der Stadt Arbeit finden, ihre Kinder zur Schule schicken. Für ihn ist das Fortschritt.

Filmstill: Master Jordan reitet mit zwei seiner Männer in das Dorf ein.

© Jaclyn Martinez /Mubi

Der Film ist einerseits sehr zeitgenössisch und andererseits untersucht er die Wurzeln unserer Gegenwart. Industrialisierung, Kapitalismus, die Ausbeutung der Natur.

Ja, es ist die Schwelle von der vorindustriellen Gesellschaft hin zur aggressiven Industrialisierung. Diese kleine historische Episode – der Enclosure Act – war der Anfang der Welt, wie wir sie heute kennen. Felder wurden in Weiden verwandelt, für Schafe – wegen der Wolle. Und die Wolle war die Grundlage für das British Empire. Es war der Beginn von Urbanität, Industrialisierung, Kolonialismus. Und heute ist es nicht anders: AI ist das neue Schaf. Weniger Menschen, mehr Effizienz. Es ist ein Muster – alle paar Jahrhunderte überschreitet die Menschheit eine Schwelle.

Filmdrehs sind nie demokratisch (…). Eine Person muss die Verantwortung tragen, (a)ber Verantwortung übernehmen ist nicht dasselbe wie über den anderen zu stehen.

Wie war das, in und mit der Natur zu drehen? Die Landschaft spielt eine große Rolle in Harvest – aber Filmproduktionen können auch sehr invasiv sein. Wie bist Du damit umgegangen?

Die Filmproduktion hat einen sehr kleinen ökologischen Fußabdruck. Ich war über zwei Jahre vor Ort in Schottland. Natürlich ist ein Dreh immer auch eine Art Kolonialisierung, wenn man nicht im Studio arbeitet. Aber wir haben die lokale Gemeinschaft eingebunden, wir haben sie sogar untereinander bekannt gemacht. Die Weberinnen, die Korbflechter, die Bauern. Wir haben alte, lokale Saaten gefunden, gepflanzt und geerntet. Das war mir wichtig – weil wir eine Gemeinschaft schaffen wollten, um einen Film über die Zerstörung einer Gemeinschaft zu machen. Der Drehprozess war also das genaue Gegenteil des Films.

Filmstill: Personen stehen in einer Reihe. Sie haben Blumen im Haar und tragen Kleider. Ihnen gegenüber steht der Kartograf Quill.

© Jaclyn Martinez /Mubi

Es gab also gar keine Statist*innen?

Nein. Alle spielen sich selbst, abgesehen von den Hauptdarsteller*innen.

Das klingt ungewöhnlich. Filmdrehs ist oft sehr hierarchisch: Der*die Regisseur*in hat eine Vision und alle anderen sollen sie umsetzen. Bei Harvest klingt es anders – was war Deine Rolle als Regisseurin?

Ich war wie eine Dirigentin. Filmdrehs sind nie demokratisch – und das müssen sie auch nicht sein. Eine Person muss die Verantwortung tragen, sonst fällt alles auseinander. Aber Verantwortung übernehmen ist nicht dasselbe wie „oben“ oder über den anderen zu stehen. Als Regisseurin habe ich eine Vision – und ich halte damit alles zusammen. Ich bin nicht da, um die Vision anderer umzusetzen, auch nicht die der Produzent*innen oder Agent*innen. Ich muss permanent Entscheidungen treffen: Ja oder Nein. Tausende davon – vom Drehbuch bis zur Bewerbung des Films. Und je klarer ich diese Entscheidungen treffe, desto klarer ist der Film. Es geht nicht um eine Botschaft, die ich dem Publikum aufzwingen will, sondern um Klarheit – der Film soll sein eigenes Wesen sein. Und das spürt dann auch das Team und am Ende hoffentlich auch das Publikum.

Filmstill aus Harvest: Drei Personen in einem Weizenfeld bei der Ernte mit Handsensen.

© Jaclyn Martinez /Mubi

Auf jeden Fall. Harvest hat eine ganz eigene Atmosphäre – schwer zu beschreiben, aber sehr stark. Dieser Prozess, die tausend Entscheidungen – musstest Du sehr für Deine Vision kämpfen? Filmproduktionen sind ja recht teuer und hektisch.

Wir hatten etwa drei Monate Vorbereitungszeit, was sehr großzügig ist. Rebecca O’Brien, unsere Produzentin, arbeitet seit Jahrzehnten mit Ken Loach zusammen. Rebecca und ich teilen den Anspruch, alle fair zu behandeln. Ich selbst habe in dieser langen Vorbereitungszeit kein Geld verdient – aber ich war da. Ich habe mit dem Team gegessen, gekocht, Spaziergänge gemacht. Das war unbezahlt und eine bewusste Entscheidung. Ich glaube, wenn das Team merkt, dass die Regisseurin wirklich lebt, was sie erzählt, dann entsteht etwas Besonderes. Mit der  Kostümbildnerin Kirsty Halliday und der Casterin Shaheen Baig habe ich mich schon  vor dem offiziellen Drehstart ausgetauscht. Wenn etwas mit so viel Liebe und Sorge gemacht wird, entstehen Freundschaften und Vertrauen. Als der Film dann die Premiere in Glasgow feierte, haben wir uns dort alle wiedergesehen und es war wie eine Hochzeit – wir sind durch den Dreh eine Familie geworden.

Kinostart 22. Mai

Theresa Rodewald