Internationales FrauenFilmFest: Highlights des Festivals

Das diesjährige Dortmund+Köln Internationales FrauenFilmFestival (IFFF) fand vom 18-23. April statt und die Filmlöwin war gerne dabei, um uns die Highlights anzusehen. Das Festival, das vor 16 Jahren aus der Fusion von zwei Festivals ins Leben gerufen wurde, zeigt eine große Auswahl von Filme von FLINTA aus der ganzen Welt und ist deswegen einer der Höhepunkte des Jahres für die Filmlöwin. Geguckt wurden Mother and Son (2022), La Maternal (2022), Angry Annie (2022), A Woman Escapes (2022), Helke Sander Aufräumen (2023) undEl Reino de Dios (2022). 

Mother and Son von Léonor Serraille 

Geschichten über intergenerationales Trauma haben zurzeit Hochkonjunktur, die vermischen nämlich ganz viele Traditionen aus dem populären Kino und ergeben so eine dynamische Auszeichnung der komplexen gegenwärtigen Familienstruktur, welcher zahlreichen Problemen gehören. Sonderlich ist es in Hollywood solche Erzählungen in Blockbusters oder Prestige-Dramen zu finden, deren Blick auf die Familie sich mit unterschiedlichen bekannten Gesichtern besetzt, welche das Thema bis ins Übertriebene verarbeiten und so viel wie möglich dramatisieren. Kern dieser Geschichten ist der körperliche und emotionale Schlag, der durch eine Familie wie ein Geist ständig verkehrt. Das gegenwärtige populäre Kino übersetzt diese Tendenz zum Inneren in sehr explizite Drehbücher, die den ganzen emotionalen Kern erklären, am besten mit Tränen in den Augen und wiederholte Ankündigung der eigenen Gefühle. Jene Gefühle gehören aber nicht zum Hauptproblem, es ist eher die Darstellungsweise, die sie zu klischeehaften Emotionen annektiert, die seit Jahrzehnten eine ungeheure Sammlung von bekannten Stereotypen im populären Kino ausmacht.

Wenn von populärem Kino die Rede ist, dann doch Hollywood. Eine Gegenmacht solches Ausmaß gibt es in der Geschichte nicht, wenn doch, dann bloß ein Konglomerat der im Vergleich eher kleinen Industrien, die versuchen, eine andere Richtung vorzuschlagen. Das französische Kino, jenseits einer Diskussion der ökonomischen Ebene, hat eine Tradition konstruiert, die sich auf die oben genannten Stereotypen eben wenig stützt. Aufgrund der Sprache und deren eigenen kulturellen Stolzes gibt es aber doch andere „Figuren“, mit denen das Autorenkino der Gegenwart sich zu befassen versucht. Stereotypen funktionieren nur insofern, als man sie sich zum Eigenen macht. Jedoch hat jede Industrie eine eher experimentelle Seite und eine durchaus konventionelle, und dazwischen Grauschattierungen. Mother and Son, der zweite Film für Caméra d’Or Gewinnerin Léonor Serraille nimmt eben das Konventionelle und verbindet sie mit einigen Gesten, deren Transparenz eine eigene emotionale Ebene schafft und gleichzeitig einen Bezug auf die narrativen Eigenheiten des Autorenkinos, die statt distanzieren sie zu ihren Figuren nähert.

Die Geschichte: Irgendwann in den späten 1980er Jahren wandert Rose (Annabelle Lengronne) mit ihren beiden jungen Söhnen Ernest und Jean von der Elfenbeinküste in die Pariser Vorstädte aus. Sie trifft eine Familie, die ihr hilft, einen Mann, der sie heiraten will, und erlebt aus erster Hand die Schwierigkeiten der Migration, der relativen Armut und der Erziehung ihrer Kinder. Gleichzeitig wechselt der Film jedoch recht geschickt die Perspektive, indem er uns die Möglichkeit gibt, Zeit mit Ernest und Jean zu verbringen und in der Zeit vorwärts zu springen, um die Folgen der Entscheidungen und der Persönlichkeit ihrer Mutter zu verstehen. Serrailles Film ist kein Film, der mit dem Finger auf andere zeigt, doch manchmal ist er gefährlich nahe daran, die Mutter für alles verantwortlich zu machen, auch wenn klar gemacht wird, dass es sich um systemischh bedingte Entscheidungen handelt. Das Spiel ist manipuliert, wieder einmal. Aber Serrailles Regieund die Kameraführung von Hélène Louvart (eine Expertin des Arthouse-Kinos) distanzieren sich mit ihrer geduldigen und bisweilen wunderbar stimmungsvollen Kamera von einfachen Urteilen und konstruieren den Schatten des Einflusses einer Mutter durch magisch-realistische Bilder innerhalb eines relativ realistischen Films.

Serrailles verkompliziert die Dinge jedoch noch weiter, indem sie sich der Techniken einer französischen Arthouse-Kinotradition bedient, nämlich der von Maurice Pialat und Phillipe Eustache beeinflussten Filme. In dieser Tradition wird zwar viel mit der Kamera experimentiert (siehe z. B. die Arbeiten von Arnaud Desplechin), aber einige Merkmale bleiben unangetastet: ein freier und unbeschwerter Gebrauch von Ellipsen und ein Nicht-Schrecken vor den Leiden der Gewalt. Ersterer lässt „wichtige“ Informationen aus, indem er ohne große Hinweise in der Zeit springt. Serraille nutzt den Perspektivenwechsel, um mit der Zeit zu spielen, und lässt oft Fäden oder Spannungen offen, indem sie zu dem Punkt vorspult, an dem einige ihrer Folgen sichtbar werden könnten. Letzteres, die physische Gewalt, war ein fester Bestandteil von Pialats Filmemachen. Körper können Schönheit transportieren, niemals Psychologie, aber hinter allen Themen steckt eine animalische Energie, die mit Höflichkeit verhandelt. Mutter und Sohn greift nie zur beiläufigen Gewalt, aber bevorzugt Momente der Aggression, die „zurückgenommen“ werden, sobald der erste Schlag gelandet ist. Das Bedauern ist in den meisten Bildern zu spüren, aber das „Unterbewusstsein“ der Figuren wird nie verleugnet. Wie bei Pialat werden Themen diskutiert, Grenzen gezogen, und das Gefühl der Schuld ist allgegenwärtig.

Und in der Tat, einige von Serrailles Gesten mögen grob sein, darunter eine sehr anklagende Szene gegen die Polizei und den Rassismus in Frankreich. Es sind jedoch ihre Absichten, die durch die seltsamen Momente der Grobheit hindurchscheinen. Die Schläge, die wir in familiären Beziehungen einstecken, bleiben nicht ohne Resonanz und prägen uns mit der Zeit. Aber Migrantenfamilien bestehen aus anderen Zeiten und Zeitlichkeiten. Wir sind keine Variablen in einem Schema, sondern komplexe Zeiten, die ineinander krachen.

La Maternal von Pilar Palomero

In ihrem zweiten Film La Maternal thematisiert t Pilar Palomero die Schwangerschaft einer 14-Jährigen, und macht daraus ein Drama, das ihrer Hauptdarstellerin, der sehr talentierten Carla Quilez, würdig ist. Das Thema ist durchaus heikel, weil es einfach ist, sich auf das Paar und sein Drama zu konzentrieren, während die beiden versuchen zu verstehen, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Stichwort: einfaches Drama. Bei dem „Paar“ handelt es sich in diesem Fall um ein Paar 14-jähriger Freunde, die in der ersten Szene das Haus eines Fremden verwüsten, Pornos ansehen und Fußball spielen. Der Umgang mit diesen Themen kann beängstigend sein, da man sich sowohl um die Kinder als Figuren als auch um die Kinder als reale Menschen, die eine Rolle spielen, kümmern muss. Auch wenn Palomeros Film keine formale Offenbarung ist, sollten diese Befürchtungen ausgeräumt werden: In „La Maternal“ geht es um Fürsorge.

Carla wird nach „La Maternal“ gebracht, nachdem man bei ihr eine Schwangerschaft festgestellt hat. Ihre Mutter, eine stürmische Ángela Cervantes, ist weder das Problem noch die Lösung, aber sie hilft selten. Ihre eigene menschliche Entwicklung wurde durch die Schwangerschaft mit Carla in gewisser Weise gestoppt. Ihr gesellschaftliches Ansehen ist gering,  sie hat ein Restaurant, das scheinbar niemand besucht; ihre Beziehung ist ähnlich angespannt. Sie scheinen einander nicht zu verstehen. Palomeros Ansatz ist der des Beobachtens. Ihre Figuren sitzen im Kreis und sprechen über die Schwierigkeiten, schwanger zu werden, sie sitzen und sprechen über ihre Fragen und Probleme auf eine Art und Weise, die schließlich die weibliche Erfahrung und den Schmerz in ihren Worten in den Mittelpunkt stellt, während sie die Geschichte von Missbrauch und emotionalem Zusammenbruch rekapitulieren. Wenn überhaupt, ist Palomero vielleicht zu sehr auf die thematischen Säulen ihrer Geschichte fixiert und lässt Carla, ihre Mutter und die Frauen im „La Maternal“ mit warmen Bildern zu Wort kommen, die manchmal ins Graue kippen und einen Realismus signalisieren, der manchmal unter seinem konstanten Humanismus leidet. Das Thema des Films, so schmerzhaft es auch sein mag, geht jedoch über die Grenzen der 14-jährigen Figur hinaus: Eine Schwangerschaft stoppt oft die Entwicklung und bringt oft Probleme in der Psyche mit sich, die schwer zu bewältigen sind. Für eine 14-Jährige ist dieser Zusammenprall zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was sein könnte, seelisch zermürbend, aber Palomero lässt den Film nie im Elend versinken. Stattdessen zollt sie einer oft abgewerteten Geschichte Respekt.

Angry Annie von Blandine Lenoir

Wenn man die Beschreibung von Angry Annie liest, einer Frau im Frankreich der 1970er Jahre, die schwanger wird, sich an eine Solidaritätsgruppe wendet, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, und sich dann an ihrem Aktivismus beteiligt, um die notwendigen Gesetze zur Legalisierung des Eingriffs durchzusetzen, könnte man sich fragen, wer es – mit Ausnahme von Frankreich und den 1970er Jahren – „am besten“ gemacht hat? Phyllis Nagys Call Jane oder Blandine Lenoirs Angry Annie? Vergleiche sind jedoch hässlich, und die veränderten Details – Call Jane spielt in den USA der 1960er Jahre – erweisen sich als entscheidend für die Geschichten, die beide Filmemacherinnen erzählen wollen. Beide Dramen spielen zudem in einer Zeit, in der diese Grundrechte in Frage gestellt und abgeschafft werden. Die Politik, die beiden Filmen zugrunde liegt, profitiert jedoch von der Voraussicht. Während Call Jane nicht vorhersehen konnte, dass das Jahr 2022 mit der Kippung von Roe vs. Wade in den USA enden würde, gelingt es Angry Annie, sich mit der Politik der Gegenwart und der Zukunft zu beschäftigen.

Diese Kämpfe nehmen kein Ende, und die Kraft, die Annie dazu bringt, wütend auf das System zu werden, beruht auf Solidarität und Verständnis sowie auf dem Gefühl, dass dieser schwierige Moment nicht nur um seiner selbst willen wertvoll ist: Die Wellen, die er schlagen kann, die Beispiele, die er zeigen kann, sind notwendig für den Aufbau einer Gesellschaft, die nicht nur Rechte einfordert, sondern sie auch bewahrt. Für Angry Annie mag der anfängliche Impuls, dieser Gruppe die Hand zu reichen, rein individualistisch gewesen sein, aber ihr Fokus wendet sich dem Kollektiv zu. Die Männer sind engagiert und mit ihrer Arbeit beschäftigt, aber ihr Verständnis für den Kampf der Proletarier erstreckt sich nicht auf einige der grundlegendsten Rechte der Frauenkörper. In diesem Sinne ist Angry Annie stärker von der politischen Kultur durchdrungen als sein amerikanisches Pendant. In einem pointierten Austausch fragt sich Annie, was mit den Solidaritätsnetzwerken geschehen wird, die sie nach der Verabschiedung des Gesetzes aufgebaut haben. Sie könnten schwächer werden, sie könnten nie wieder die Zuneigung erreichen, die sie hatten, als sie noch für etwas kämpften. Lenoirs warme Töne und die unaufdringliche Kameraführung konzentrieren sich auf die Botschaft, und als sie Delphine Seyrig im Fernsehen zeigen, wie sie über Schwangerschaftsabbrüche spricht, ist ihr Standpunkt hinreichend bewiesen: Medien müssen an diesen Kampf erinnern und weiter kämpfen.

A Woman Escapes von Blake Williams, Sofia Bohdanowicz und Burak Çevik

Der wahrscheinlich schwierigste Film, über den man schreiben kann, ist auch der lohnendste. A Woman Escapes, eine Zusammenarbeit von Blake Williams, Sofia Bohdanowicz und Burak Çevik, ist nur im „Geiste“ ein Brieffilm. Der Film handelt von Briefen, nicht explizit geschriebenen, sondern filmischen Briefen, die Çevik und Williams mit einer aus Bohdanowiczs Filmen bekannten Figur, Audrey, gespielt von Derargh Campbell, austauschen. Der Film, der vom Festival als 3D-Ereignis beworben wird, ist einer der interessantesten in der Sektion Panorama, gerade weil er den Zuschauer dazu zwingt, beim Betrachten des Films nicht nur in drei, sondern in weiteren Dimensionen zu denken. Zu Beginn des Films wird uns geraten, die 3D-Brille nicht abzunehmen, da die Übergänge zu 3D ohne Vorwarnung erfolgen. Das verleiht dem Film ein Gefühl der Erwartung; da man nicht weiß, wann etwas kommen wird, schaut man gespannt zu und wartet.

Was zuerst kommt, ist jedoch nicht wirklich 3D, sondern die warmen 16-mm-Bilder von Bohdanowiczs Kamera. Die Figur der Audrey ist in ihren Werken kein Avatar, sondern eine veritable Gestalt, mit der die Filmemacherin spielen kann, die sie in Gefahr und Zweideutigkeit versetzt und die manchmal, wie man meint, ihre intimsten Probleme behandelt. In A Woman Escapes, ein Titel, der auf Robert Bressons Film von 1956 verweist, nimmt dies die Form der Trauer an, nicht als Konzept, sondern als Geisteszustand, der sowohl kreative Anstrengungen als auch die starrsten, hermetischsten Gefühle hervorrufen kann. Nach dem Tod ihrer Freundin Juliane am Leben zu sein, bedeutet für Audrey den Verlust des Kompasses, und Bohdanowiczs Kameraführung spiegelt dies wider, indem sie Audrey und ihre Umgebung, ihre Sorgen und Depressionen kurz mit den unseren verschwimmen lässt. Wo sich A Woman Escapes formal absichert, ist in der Interaktion dieser Erstarrung mit anderen Visionen. Çeviks formal zurückhaltende, aber verblüffende 4K-Bilder sind ein deutliches Gegenstück zu denen von Bohdanowicz und Audrey, seine eigene Beschäftigung mit dem Erinnern eine scheinbare Erweiterung von Audreys, aber gleichzeitig auch ihr Differenzpunkt. Inhalt und Kontext spielen eine Rolle, doch Audrey beschließt, sich die Bilder und den Monolog von Çevik so oder so anzueignen und so den Brief zu etwas Eigenem zu machen.

Das bekannteste Element des Films stammt von Blake Williams‚ bekannten Experimenten mit 3D und seiner eigenen, zurückhaltenden Art, seine eigene Korrespondenz zu präsentieren. Wie er erzählt, „fällt er in Internet-Wurmlöcher“ und kommt zurück, um mehr zu erfahren. Seine 3D-Momente konzentrieren sich auf das Hervorrufen eines Augengefühls, etwas, das das Auge nur in seiner eigenen Materialität verstehen kann und das sich nicht ganz durch Sprache ausdrücken lässt, es ist lediglich ein Affekt, etwas, das sich in Unbehagen äußern kann und dazu führt, dass man die Brille abnimmt, aber oft auch zum Genuss führt. Williams‘ 3D-Beitrag beschränkt sich nicht auf „seine“ Segmente, denn er schenkt Audrey auch eine 3D-Kamera, mit der sie sich zunächst nicht anfreunden kann, die sie aber schließlich zur Grundlage ihrer gesamten künftigen Arbeit erklärt. Von „seinen“ oder „ihren“ Segmenten zu sprechen, ist jedoch falsch. Solange man die Arbeiten der Filmemacher nicht kennt, lässt sich kein einziger Stil auf seinen Urheber zurückführen. Und genau das ist die Freude an A Woman Escapes. Durch ihre Verweise auf Künstler:innen und Filmemacher:innen, aber auch auf sich selbst, spielen die Filmemacher:innen mit einem mutierten Konzept von Autorschaft, das sich zurückzieht und ausdehnt, das wechselt und Stimmen, Töne und Farben annimmt. Bressons Hauptfigur schafft es schließlich, nach Briefen, Plänen und Gesprächen, aus dem Gefängnis zu entkommen, wobei sein Ziel seit seinem Eintritt feststeht. Der eher metaphysische Ort der Depression mag ähnlich unausweichlich erscheinen, aber was A Woman Escapes andeutet, ist, dass es nicht nur einen Weg zum Ausstieg gibt. Kreativität kann mutierende Formen annehmen und uns zum Schlüssel für die Zelle unserer eigenen Subjektivität machen.

Helke Sander: Aufräumen von Claudia Richarz

Wenn es eine ikonische Figur des feministischen deutschen Films gäbe, dann wäre es keine andere als Helke Sander. Ihre Arbeit in Deutschland hat den Feminismus der zweiten Welle auf audiovisuelle Weise mehr als jede andere auf die Bühne gebracht und eine Reihe von Anliegen auf die filmische Landkarte gesetzt, die man nur so beschreiben kann, dass sie die tausend Schichten des Schwachsinns, der als linke Politik erscheint, abblättert, den Kern unverblümt zeigt und richtige dialektische Formulierungen in ihrer Arbeit zulässt. Betrachtet man Sanders Arbeit – und das ist der Begriff, nicht „Werk“ – in Der subjektive Faktor (1981), könnte der Uneingeweihte an ein didaktisches Argument der Form denken: Die Arbeit und die Anliegen von Frauen sollten in der revolutionären Arbeit berücksichtigt werden. Doch jene Reduktion verfehlt, was bei Sander als Übergang von einem Rest, einem nicht einmal zweiten, sondern fünften Gedanken der revolutionären Bewegung in Deutschland, wie es die Frauenbewegung war, zu einem richtig formulierten Argument gegen die Blindheit der Revolutionäre verstanden werden kann. Die Blindheit ihrer Schemata, die die von Frauen geleistete Arbeit in die Bedeutungslosigkeit abschiebt.

Diese Rede vom Rest mag an Psychoanalyse denken lassen, aber was Sander vorlegt, ist nicht weniger als der kunstvolle Zusammenhalt einer Haltung gegenüber der Welt, die als Argument geformt werden muss, indem sie von den Einzelnen, ihren tiefen, denn wirklichen, Frauenfiguren ausgeht, deren besondere Qualitäten aufnimmt und durch sie das Argument für das Allgemeine formt. Indem sie die Theatralik wegnimmt und Humor und tiefsitzende Ironie hinzufügt, plädiert Sander für das intersubjektive Element, das Teil jeder revolutionären Bewegung sein sollte. Wir sind keine Inseln, die berühmten Vorbilder des männlichen revolutionären Kampfes geben „alles“ auf, um der Sache willen, aber im Ergebnis machen sie sich lächerlich über ihre eigene Fähigkeit, andere zu verstehen und sich in sie einzufühlen, deren Körper und Perspektive einen wichtigen Platz in der revolutionären Arbeit verlangen. Der Marxismus, reduziert auf Ideen, für die es sich zu sterben lohnt, hatte sich faul in einen Männerclub verwandelt, auf schrecklich unangenehmes Englisch, aber deswegen nicht weniger wahr: in ein Würstchenfest.

Jedoch Sanders Filme als bloße Argumente zu bezeichnen, würde ihrer Kunst nicht gerecht werden. Die Argumente, die Sander in ihren Filmen vorbringt, sind Argumente gerade wegen der Kunstfertigkeit, mit der sie Ideen, Anekdoten, Probleme und Themen verknüpft. Das Spiel von Geduld und Wärme, von der französischen New-Wave-Kinematographie beeinflusst, regt mit visuellen Mitteln und kleinen Gesten eine Diskussion an. Ihr Werk, das nicht nur Der Subjektive Faktor, sondern auch Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers (1978), Subjektitüde (1967), Befreier und Befreite (1992), Brecht die Macht der Manipulateure! (1968), umfasst die Bewegung vom Persönlichen zum Politischen in Form von visuellen Argumenten gegen das „Normale“. Die Unbefangenheit, die in den Szenen männlicher Fixierung in Subjektitüde, um nur ein Beispiel zu nennen, zur Schau gestellt wird, schafft es, die herrschende Perspektive auf den Kopf zu stellen. Gesehen zu werden bedeutet wahrgenommen zu werden, doch unter dem Druck unserer zeitgenössischen visuellen Kultur bedeutet auch gesehen zu werden, konsumiert, beschmutzt, gegen den eigenen Willen angeeignet zu werden.

Vor dem Hintergrund dieser reichen intellektuellen und komplizierten Geschichte, in der ästhetische Überlegungen nicht unwichtig, sondern ganz entscheidend sind, widmet sich Claudia RicharzHelke Sander: Aufräumen dem Erzählen und Rekapitulieren des Lebens einer Person gewidmet, deren bloße Anwesenheit in vielen Vorführungen des Frauenfilmfestivals Eindruck machte. Die Schwierigkeit ist ein nicht triviales Thema. Während die Vorstellung ihres filmischen Schaffens ausreichen würde, um eine Dokumentation über sie und ihre philosophischen Ideen zu füllen, und ihre Reflexion über die Themen der Frauenbewegung etwas ist, das man leicht stundenlang hätte aufzeichnen können, präsentiert Richarz‚ Film eine liebevolle Widmung an eine Person, die bis heute Einfluss ausübt und die in manchen Kreisen vergessen wurde, insbesondere wenn wir ihren Platz oder ihr Fehlen in Filmlisten betrachten, die sich der Darstellung der zweiten Welle feministischer Arbeit widmen. Mit der Kamera von Richarz begleiten wir Sander bei den Vorbereitungen für ihre Beerdigung und bei ihren Erzählungen über ihre Filme in verschiedenen Seminaren, zu denen sie eingeladen wurde, um über ihre Arbeit zu sprechen. Sie spricht direkt und ohne Scham über sexuellen Missbrauch und erzählt von ihrer Zeit, in der sie liebte und geliebt wurde.

Richarz‚ liebevoller Blick auf Sander erinnert an „ein Leben“, das an der DFFB seinen politischsten Punkt erreicht zu haben schien und sich durch ihre Arbeit bis 2005 weiterentwickelte und weiterhin an die feministischen Punkte der revolutionären Bewegung in Deutschland erinnert. Diese Punkte sind natürlich nicht unumstritten, und von Helke Sanders berühmter Tomatenrede aus dem Jahr 1968 springen wir kurz ins Jahr 2018, um zu sehen, wie Helke Sander angesichts von globaler Ungerechtigkeit, Ausbeutung und allgemeiner gesellschaftlicher Katastrophe die Erfindung von Gendersternchen beklagt. Diese Rede wird natürlich prompt von der Opposition unterbrochen, einer Gruppe ohne Mikrofon, die sich für die Akzeptanz von LGBTQI+ einsetzt. Eine andere Art von Politik also. Eine Erwiderung wird nicht gegeben; der notwendige Dialog findet nicht statt. Wir sollten hier Unterschiede in der Herangehensweise verstehen, jedoch sollten wir nicht vergessen, dass die Radikalität von Sanders Argumentation auch einige Feinde auf sich zog, während sie das richtige künstlerische und aktivistische Ventil für ihre Argumente schuf. Dieses Argument schuf Geschichte, aber auch Probleme, wie sie in einer Szene des Dokumentarfilms in Erinnerung ruft. Die historische Entwicklung des Feminismus schuf „andere“ und übte ihrerseits eine neue Kritik an den vorherigen Feminismen. Sanders Argumente sind es wert, wiederholt zu werden, und doch sind manche, wie diese Dokumentation in ihrer Schärfe zu Recht andeutet, es wert, erneut überdacht zu werden, denn es gibt Fehler, die uns verfolgen. Aufräumen skizziert Traurigkeit und revolutionären (Teil-)Sieg, Denunziation und die Bedeutung des Dialogs, die eigene Geschichte zu kennen und mit Blick auf die materielle Lage der Frauen behaupten zu können: Der männerzentrierte Aktivismus war schon tot, bevor wir ihn überhaupt für tot erklärt haben. Wir sind hier, um ihn zu begraben und für mehr zu kämpfen.

El Reino de Dios von Claudia Sainte-Luce

Der in Veracruz, Mexico wohnende, kleine siebenjährige Neimar hat fünf Begleiter:innen, darunter seine Munter, seine Oma, eine Freundin, Tiere und Gott. Obwohl sich nichts für die Existenz des letzten ausgehend von dem passenden betitelten El Reino de Dios (“Das Reich Gottes” dazu mehr später) klar sagen lässt. Oder doch: dass er schließlich fehlt. Neimar ist von allen möglichen Perspektiven ein Kind, eine sanfte Kreatur, getrieben von unschuldigen Impulsen, Reaktionen auf Reaktionen der Umgebung. Neimar geht, läuft, schreit und liest. Trotzdem scheinen diese Aktivitäten wenig zu taugen. Die Tage verlaufen, die Komplizinnen von Neimar bewegen sich in und aus der Einstellung. Manchmal, um nie wieder zurückzukommen. Was ist da los?

Die Leere, die Neimar fühlt, zuerst latent in seinen Taten, dann explizit, als sich eine Komplizin verabschiedet, braucht weder eine metaphysische Erklärung noch eine aufwändige Theorie des Kapitalismus, um verstanden zu werden. Claudia Sante-Luces Schlüssel zum Film ist gleichzeitig ihre Kamera, welche sich nicht mit schönen Kompositionen begnügt, sondern auch den Versuch wagt, Neimar nah zu folgen, und die Performance, die sie aus seinen Schauspieler:innen herbeiführt, deren Verletzlichkeit echt sein kann, ohne aufgesetzt zu wirken, und die dokumentarisch ist, ohne unbedingt ein Dokumentarfilm zu sein. Das, was Sante Luces verstanden hat, ist, dass ihre Figuren keinen geschickten, these-artigen Formalismus brauchen, um etwas zu vermitteln. Die Realität so verletzend und ruhig wie sie sein kann, ist genug, das Leid zu dramatisieren hat oft den Effekt, die Figuren zu traumatisieren. Wo es Feinfühligkeit gibt, braucht man nur wenige Dinge mehr.

Doch Neimar muss die Erstkommunion machen, und sein symbolisches Universum wird mehr von den Sätzen beeinflusst, die er im Kathechismus wiederholt, als er denkt. Der Glaube, der durch die Disziplin des Auswendiglernens verarbeitet wurde, ist Information, die eine Hypothese über die Welt bildet. Innerhalb der Grenzen eines Klassenzimmers gibt es keine Möglichkeit, sie zu überprüfen; die Autorität regiert und sagt dir, was du fühlen sollst. In schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen, in denen Großmutter sich nur über das Essen beschweren kann und die Unterhaltung durch die Verarbeitung von Popkultur durch die Umwelt (und Pferde) entsteht, besteht die einzige Möglichkeit zur Überprüfung darin, selbst unter den schlimmsten Bedingungen zu glauben und zu sehen, was danach übrig bleibt.

Was nach diesen veritablen Schlägen des Lebens übrig bleibt, kann für immer schmerzen. Wenn das Reich Gottes nur etwas ist, das endlos wiederholt wird, aber nicht in Körper und Geist zu spüren ist, dann wäre das Reich Gottes vielleicht etwas, das man zurücklassen müsste.

Giancarlo M. Sandoval