Call Jane

Im Drama Call Jane erzählt Phyllis Nagy die Geschichte des Jane Collectives. Die Janes organisierten sichere Schwangerschaftsabbrüche, bevor mit dem Urteil “Roe vs. Wade” 1973 der Zugang zu legalen Abtreibungen in den USA ermöglicht wurde.

© DCM / Wilson Webb

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1968 ist die Stimmung aufgeheizt, während des Parteitags der Demokraten kommt es in Chicago zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Dieses Klima gesellschaftlicher Veränderungen nimmt Joy Griffin (Elizabeth Banks) eher am Rande wahr. Sie lebt mit ihrem Ehemann Will (Chris Messina), einem aufstrebenden Rechtsanwalt, und ihrer Teenager-Tochter Charlotte (Grace Edwards) in einem Chicagoer Vorort. Joy erfüllt die gesellschaftlichen Ansprüche an eine vorbildliche Ehe- und Hausfrau und erwartet ihr zweites Kind.___STEADY_PAYWALL___

Aufgrund lebensgefährlicher Komplikationen in der Schwangerschaft entscheidet sich Joy für einen Abbruch. Entgegen der ärztlichen Empfehlung und Joys eigenem Wunsch verweigert die Klinik jedoch die Zustimmung zu einer legalen Abtreibung aus medizinischen Gründen. Plakativ verbildlicht Call Jane ein Kernproblem der Abtreibungsdebatte: Eine Runde alter weißer Männer entscheidet über das Leben einer ungewollt Schwangeren und übergeht diese dabei völlig. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann will Joy sich mit diesem Urteil nicht abfinden. Auf der Suche nach Möglichkeiten findet sie einen Aushang der Janes, einem Kollektiv, das in der Illegalität sichere Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht und das tatsächlich existierte.

© DCM / Wilson Webb

Durch die Janes erhält Joy schließlich die medizinische Versorgung, die sie benötigt. Denn Abtreibungen sind ein Teil von Gesundheitsversorgung und aus diesem Verständnis heraus zeigt Phyllis Nagy den Eingriff, erklärt ihn Schritt für Schritt. Die Kamera verbindet den medizinischen Vorgang mit der Patientin, indem sie zwischen der Perspektive des Arztes und der Patientin wechselt. Was auf der einen Seite eine Standardprozedur ist, ist auf der anderen ein emotionales Erlebnis. Call Jane konzentriert sich auf die Abtreibung selbst, nicht auf mögliche Gewissenskonflikte, Komplikationen oder Traumata. Im Film heißt es dazu: Für zwanzig Minuten kannst du es aushalten, denk an die ganzen anderen Minuten deines Lebens.

Call Jane erkennt die individuelle (Not-)Lage ungewollt Schwangerer, denen der Zugang zu legalen Abtreibungen verwehrt wird, an, beschreibt sie aber nicht als tragische Einzelschicksale. Die historischen Janes organisierten tausende Schwangerschaftsabbrüche in den Jahren 1969-1973. Exemplarisch greift Call Jane Anfragen ungewollte Schwangerer auf, die sich in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen befinden. Darunter sind Personen, die bereits Kinder haben und keine weiteren möchten, die aus gesundheitlichen Gründen ihre Schwangerschaft beenden müssen, die keinen ausreichenden Zugang oder Wissen über Verhütungsmethoden haben. Auf diese Weise macht der Film sichtbar, dass es ganz unterschiedliche Gründe für den Abbruch einer Schwangerschaft geben kann und dass jeder davon legitim ist.

© DCM / Wilson Webb

Im Kontrast zu vielen medialen Darstellungen betrachtet Call Jane Abtreibungen nicht als individuelles Problem, das die Betroffenen isoliert, sondern als politisches Thema, das nur solidarisch gelöst werden kann. Während der gesellschaftliche Fortschritt weiter auf sich warten lässt und der konservative Nixon die Präsidentschaftswahl gewinnt, emanzipiert Joy sich zunehmend. Ihre eigene Erfahrung und der Kontakt zu den Janes politisieren sie. Anfangs lässt sie sich nur widerwillig von Virginia (Sigourney Weaver) für die Unterstützung der Gruppe einspannen, schließlich wird sie aktives Mitglied.

In ihrem Anspruch einen Film zu schaffen, der nicht nur die bereits Überzeugten anspricht, wählt Phyllis Nagys eine gefällige, vielleicht etwas weichgespülte Darstellung der Janes. Ihr mutiger und durchaus radikaler Aktivismus verschwimmt im seichten Retrolook der Bilder und dem schwungvollen Sixties Soundtrack. Von der angespannten gesellschaftlichen Stimmung, die die Eingangssequenz des Films andeutet, bleibt kaum etwas übrig. Die Bürgerrechtsbewegung kommt nur am Rande vor, wenn Gwen (Wunmi Mosaku) als einzige Schwarze Protagonistin auf die Mehrfachdiskriminierung Schwarzer Frauen aufmerksam macht.

© DCM / Wilson Webb

Vor dem Hintergrund, dass der Oberste Gerichtshof “Roe vs. Wade” in diesem Sommer kippte, hat Phyllis Nagys Drama das Potential, über eine nostalgische Würdigung feministischer Vorkämpfer:innen hinaus zu wirken. Es zeigt die möglichen Konsequenzen des antifeministischen Backlash und ermutigt zum Widerstand. Ich möchte Call Jane als Aufruf verstehen, Netzwerke zu schaffen und weiter für unsere Rechte zu kämpfen.

Kinostart: 01. Dezember 2022

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