DOK Leipzig 2018: In Search…
So etwas habe ich noch nie erlebt. Nach dem Film betreten die Regisseurin Beryl Magoko und ihre Mutter die Bühne, außerdem die Kamerafrau Jule Katinka Cramer. Kurz darauf muss sich die Magokos Mutter setzen. Sie ist zu emotional, droht zusammenzubrechen. Beryl Magoko ringt ebenfalls mit den Tränen, dreht dem Publikum vorübergehend den Rücken zu. Schließlich verschlägt es sogar der Moderatorin die Sprache und sie muss die Q&A für einen kurzen Moment unterbrechen. Und ich kämpfe im Publikum ebenfalls gegen einen apfelgroßen Kloß im Hals. Aber ich kann doch jetzt nicht weinen! Es geht doch hier nicht um mich!
Nein, es geht um Beryl Magoko, die in ihrem Film In Search… die eigene Genitalverstümmelung verarbeitet. Soll sie sich einer Rekonstruktion unterziehen? Wie gehen andere Betroffene damit um? Was wird ihre Familie, vor allem ihre Mutter dazu sagen? Was sind die Argumente dafür oder dagegen?
Denn ja, es gibt Argumente dagegen. Das erscheint zumindest mir anfänglich absurd, ist mir doch meine Sexualität derartig lieb und teuer, dass ich mir nicht vorstellen kann, freiwillig auf ein Lustempfinden zu verzichten. Doch dann kommen Protagonistinnen zu Wort, die mir eine völlig neue Sicht eröffnen. Noch einmal Menschen mit einem scharfen Gegenstand an diesen Teil ihres Körpers lassen, nach all dem Schmerz, dem lebenslangen Trauma? Ist es das wert? Eine der Frauen* beschreibt den inneren Konflikt zwischen der Tradition in ihrem Herkunftsland und der scharfen Verurteilung derselben Praxis in ihrer neuen Heimat Deutschland. Und ich verstehe, dass meine Perspektive eine sehr deutsche ist.
Neu für mich, die sich schon mehrfach mit dem Thema auseinandergesetzt hat, ist auch die Scham der Betroffenen. Aber – so geht es mir durch meinen naiven Kopf – warum sich für etwas schämen, für das frau doch gar nichts kann?! Es ist vermutlich wie mit dem Überleben von sexualisierter Gewalt, im Zuge dessen sich viele Betroffene fragen, ob sie eine Teilschuld tragen. Beryl Magoko beispielsweise kämpft mit der Erinnerung daran, wie sie freiwillig zur Beschneidungszeremonie gegangen ist. Warum hat sie sich nicht gewehrt? Und wie konnte ihre Familie, vor allem aber ihre Mutter, das zulassen?
Um diese Fragen zu beantworten, tritt sie eine Reise nach Kenya an. Zum ersten Mal in ihrem Leben sucht sie den Dialog mit ihrer Mutter über das Erlebnis ihrer Genitalverstümmelung. Die Antworten wirken unbefriedigend: Es ging damals nicht anders. Beryl wäre aus der Gemeinschaft verstoßen worden. Der Druck der Kirche sei enorm gewesen. Immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer: Heute ist das anders. Heute positionieren sich Kirche und Regierung klar gegen die menschenverachtende Praxis.
Weiter geht die Reise. Beryl lässt sich ärztlich beraten, spricht mit mehr Menschen, begleitet Operationen. Doch die Entscheidung bleibt schwer. Ein großer Schritt. „Was ist, wenn ich den größten Fehler meines Lebens mache?“ fragte sie sich vor der Kamera.
Es ist dieser Prozess, der In Search… so berührend macht. Es geht nicht um die Verurteilung einer Gesellschaft, es geht nicht um das Leid an sich, sondern um seine Überwindung. Es geht um Frauen*, die einen Weg nach vorne suchen, eine Befreiung, für die es kein Patentrezept gibt. „Mein Weg ist dieser Film“, sagt Beryl Magoko nach der Vorführung beim DOK Leipzig. Auch wenn sie große Angst davor hatte, ihre Geschichte vor die Kamera zu bringen, so war diese Auseinandersetzung doch notwendig, um sich dem Thema überhaupt weiter widmen zu können.
Das Besondere an Magokos Herangehensweise, im Gegensatz zu vielen anderen fiktionalen und dokumentarischen Filmen zum gleichen Thema, ist dieser stets präsente Blick nach vorn, der doch niemals die schwerwiegenden emotionalen und körperlichen Konsequenzen der Genitalverstümmelung in den Hintergrund treten lässt. In Search… erzwingt unser Mitgefühl, unsere Tränen nicht und erreicht sie gerade dadurch ohne Einschränkung – ein Effekt, der sich in der Q&A nach dem Film unweigerlich offenbarte. Das gelingt Magoko auch dadurch, dass sie ihre eigene Geschichte zwar zum Ausgangspunkt und roten Faden, nicht aber zum Selbstzweck macht. Ja, In Search… ist ein Film über Beryl Magoko und über Genitalverstümmelung, der Betroffenen Mut machen soll, ihren Körper und ihre Sexualität zurückzuerobern. Aber es handelt sich darüber hinaus auch um einen allgemein emanzipatorisch wertvollen Film, der dazu ermutigt, Traumata zu verarbeiten, um die Macht über das eigene Leben wiederzuerlangen – auf welchem Wege, das bleibt allen selbst überlassen.
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