DOK Leipzig 2018: Women With Gunpowder Earrings

Eine zierliche, verhüllte Frau* rennt mit bewaffneten Soldaten durch einen Kugelhagel. Ich erwähne, dass sie verhüllt ist, weil das zumindest in mir zunächst eine völlig fehlgeleitete Assoziation von Demut weckte. Aber Reporterin Noor ist alles andere als demütig. Sie gehört zu den mutigsten Frauen*, die ich jemals in einem Film gesehen habe.

„Mein Leben ist nicht wertvoller als das der Soldaten“, erklärt sie ihren Einsatz hinter der syrisch-irakischen Frontlinie. Was im Krieg gegen ISIS geschieht, soll in den Medien gezeigt werden. Sie muss vor Ort sein. Sie muss mit dabei sein. Koste es was es wolle, im Zweifelsfalle auch ihr Leben. Noor ist Patriotin.

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes: Sie trifft auf eine Gruppe Frauen* und Kinder, die von ihren Männern*, ISIS-Kämpfern, zurückgelassen wurden. Schwer verletzt, hungernd, verzweifelt, hoffnungslos. Die irakischen Soldaten begegnen ihnen mit Aggression und Verachtung, sehen nur den Feind, nicht die Menschen. Auch nicht die unschuldigen verängstigten Kinder. Noor aber geht in den mitfühlenden Dialog mit den Familien ebenso wie in die Konfrontation mit dem Militär. Diese Frauen* und Kinder müssen in Sicherheit gebracht werden. Sie dürfen nicht länger im Kreuzfeuer sitzen. Sie brauchen Nahrung, medizinische Versorgung. Und Noor setzt sich durch.

Doch es bleibt nicht bei dieser einen Begegnung. Noor besucht Lager für irakische und nicht-irakische ISIS-Familien und schreckt in ihren Gesprächen mit Frauen* und Kindern auch vor unbequemen Fragen nicht zurück. Manche sprechen positiv von ihrem Leben mit der Terrororganisation, andere verurteilen deren Taten scharf. Aber es ist eben nicht so einfach, die Realität ist nie schwarz-weiß. Was ist diesen traumatisierten Frauen* zu glauben, die allesamt behaupten, ihre Männer* hätten niemanden ermordet, sondern seien nur Mechaniker oder auf anderem Wege am Rande tätig gewesen?

© DOK Leipzig 2018

Noor ist ganz nah dran an diesen Menschen und Regisseur Reza Farahamand ist ganz nah dran an Noor. Und so sind auch wir als Publikum ganz nah dran an allem: An den lebensgefährlichen Gefechtssituationen, an den Frauen* und Kindern in den Lagern, und an Noor und ihren widersprüchlichen Gefühlen, zwischen Mitgefühl, Skepsis und – ganz selten – Wut. Und so zwingt Women with Gunpowder Earrings auch uns zu einer Positionierung: Wer ist hier Opfer und wer ist Täter? Wie stehen wir zu diesen Menschen?

Noch komplizierter wird die Lage, als Noor die irakischen Überlebenden eines Massakers besucht, Geschichten von Kindermorden und Massenvergewaltigungen als Erfahrungsberichte aus erster Hand vernimmt. Und nun ist es plötzlich glasklar: Dies ist ein Krieg geführt von Männern*, der unter anderem auf den Körpern der Frauen* stattfindet. Es spielt keine Rolle, wie sehr die ISIS-Frauen* mit der radikalislamischen Ideologie verhaftet sind. Sie und vor allem ihre Kinder sind menschliche Kollateralschäden in einem Krieg, der mit ihnen nichts zu tun hat. Und doch, so informiert uns eine Texttafel am Ende, werden sie als Terrorist_innen strafrechtlich verurteilt, ihre Kinder vermutlich auf Lebenszeit geächtet.

Women with Gunpowder Earrings zeigt eindrücklich, was Monika Hauser und die Organisation medica mondiale zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht haben: „Jeder Krieg ist immer auch ein Krieg gegen Frauen“. Regisseur Reza Farahmand erweitert diese Aussage um den Zusatz: „und gegen Kinder“. Zugleich ist sein Dokumentarfilm auch das Portrait einer beeindruckenden Frau*: Noor, selbst dreifache Mutter, betritt immer wieder mutig das Schlachtfeld – das emotionale wie das kriegerische. Sie hat ebenso wenig Angst vor dem Tod wie vor der moralischen Grauzone und ist damit eine Inspiration. Nicht jeder Mensch sollte sich ohne Rücksicht auf Verluste in einem bewaffneten Konflikt in Todesgefahr begeben. Aber jeder Mensch sollte mutig genug sein, hinter die Fassade eines vereinfachten Täter- und Opferschemas zu schauen und sich die eigene Menschlichkeit zu erhalten. Denn nur diese, und keinesfalls der Krieg, schafft schließlich Frieden – im Großen wie auch im Kleinen.

Doch diese Grauzone ist anstrengend. Es ist anstrengend das Leid zu sehen, das wir nicht einordnen können. Nicht zu wissen, ob wir mitfühlen sollen oder dürfen, ob wie wir es mit Täter_innen oder Opfern zu tun haben. Es ist anstrengend die verlassenen Frauen* und Kinder zu sehen, das Leid, den Krieg, die Hoffnungslosigkeit. Es ist anstrengend Women With Gunpowder Earrings zu sehen. Aber das heißt nicht, dass wir es nicht tun sollten. Im Gegenteil.

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)