DIE ZÄRTLICHE REVOLUTION: Interview mit Annelie Boroș
Während Annelie Boroș zu ihrem Film über Fürsorge recherchiert, nimmt ihre Freundin und Mitbewohnerin Kathrin sich das Leben. Könnte es eine Welt geben, in der sie gerne gelebt hätte? Eine Welt, in der Menschen mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden, in der wir Zeit und Raum hätten, uns mit den Bedürfnissen von anderen wirklich zu befassen? Eine Welt voller Fürsorge? Die zärtliche Revolution begleitet Menschen, die Fürsorge zum Mittelpunkt ihres Lebens machen – und dabei täglich an gesellschaftliche Grenzen stoßen. Der persönliche Verlust der Regisseurin verwebt sich mit den Geschichten ihrer Protagonist*innen zu einem bewegenden Film über Pflege, Solidarität und die Vision einer Gesellschaft, die sich wirklich kümmert. Lea Lünenborg konnte Annelie Boroș für einige Drehtage begleiten und hat sich jetzt, nach Fertigstellung des Dokumentarfilms, mit ihr im Interview für FILMLÖWIN unterhalten.

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Lea: Liebe Annelie, wie bist du dazu gekommen, einen Film wie Die zärtliche Revolution über das Thema Pflege zu machen?
Annelie Boroș: Ich habe ein ganz tolles Buch gelesen, das ich sehr empfehlen kann, das heißt „Tiefrot und radikal bunt“ von Julia Fritsche. Es geht darum, eine neue Erzählung für eine Gesellschaft, in der wir gerne leben wollen, und neue Utopien zu finden. Care gehört für sie ganz stark dazu. In meinem Umfeld habe ich beobachtet, dass viele Leute gerade mit Fürsorge und Selbstfürsorge totale Schwierigkeiten haben. In dieser Leistungsgesellschaft sind alle für sich selbst verantwortlich und kämpfen so um ihr eigenes Zurechtkommen, dass man oft für Dinge wie Fürsorge wenig Zeit hat. Wenn es dann jemandem nicht gut geht, wenn ein Freund oder eine Freundin Liebeskummer hat oder krank ist, dann schafft man es oft nicht, sich so zu kümmern, wie es der eigene Anspruch wäre. ___STEADY_PAYWALL___
Ich habe dann noch ein ganz tolles Buch gelesen, „Care Revolution“ von Gabriele Winkler. Darin geht es eigentlich genau darum: Wie kann man eigentlich eine Revolution der Fürsorge schaffen? Das sind die wichtigsten Tätigkeiten in dieser Welt, alle brauchen die ganze Zeit Fürsorge, wir werden auf die Welt geboren und sind absolut abhängig. Wir leben in einer Welt, die uns vorgaukelt, dass wir eigenständig und individuell leben können. Und jede Tätigkeit in diesem Bereich ist absolut prekär, nicht wertgeschätzt und unterfinanziert. Dabei sind das eigentlich die Tätigkeiten, die wir am meisten brauchen – aber die Bereiche, in denen das Geld liegt, sind völlig woanders.
„Das ist alles ein großes Missverständnis. Wir sind irgendwo falsch abgebogen. Wir müssen uns komplett umorientieren. Die Idee von „Wirtschaft ist Care“ ist, das wieder umzudrehen und statt Profitmaximierung eigentlich Fürsorgemaximierung zu betreiben.“
Was glaubst du, woran es scheitert?
Also, scheitern, würde ich sagen, tut es tatsächlich an der Fokussierung auf Wirtschaft. Es gibt ein tolles Netzwerk, das heißt, „Wirtschaft ist Care“. Und da heißt es, dass die Wirtschaft eigentlich dafür da ist, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Aber wenn wir den Wirtschaftsteil der Zeitung aufschlagen, geht es nicht um die Erfüllung der Bedürfnisse, sondern es geht um Wachstum. Nur dient Wachstum leider nicht immer unserer Gesundheit, oder nicht mehr, oder momentan nicht. Ich hatte sowas wie ein Gefühl von: Das ist alles ein großes Missverständnis. Wir sind irgendwo falsch abgebogen. Wir müssen uns komplett umorientieren. Die Idee von „Wirtschaft ist Care“ ist, das wieder umzudrehen und statt Profitmaximierung eigentlich Fürsorgemaximierung zu betreiben.

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In deinem Film erzählt du die Geschichten von vier Protagonist*innen. Wie lief deine Recherche ab? Wusstest du, wo es hingeht und was du erzählen willst?
Ich habe viel über das Thema Care gelesen und bin meinem Interesse gefolgt, recht intuitiv. Mein Vater ist Rumäne und bei meiner deutschen und meiner rumänischen Oma haben eigentlich immer rumänische Pflegekräfte zu Hause gewohnt. 24-Stunden-Pflege ist ein total absurdes System, weil Leute für zwei Monate ihr Zuhause und ihre Kinder und ihre Eltern, um die sie sich auch kümmern müssten, komplett verlassen und sich hier um Rentner*innen kümmern. Sie leben für die Zeit ganz abgeschieden von der Welt und können ihr eigenes Leben gar nicht weiterentwickeln. Diese Abhängigkeit von der Arbeit hat mich interessiert und daran erzählt sich auch der Care Drain. In manchen Ländern gibt es einen Zug der Pflegekräfte und die werden ins Land „importiert“, aber in ihrem Land fehlen sie dann total, was zu einer Unterversorgung führt.
Durch das Buch von Gabriele Winker ist mir Arnold Schnittger begegnet, der seit fast dreißig Jahren seinen Sohn Nico pflegt, unter absolut prekären Bedingungen. Die Arbeit der pflegenden Angehörigen ist sehr unsichtbar. In den ganzen bezahlten Arbeitsfeldern gibt es Gewerkschaften, da gibt es zumindest Vernetzung, aber bei den pflegenden Angehörigen nicht, weil sie selbst so überlastet sind.
Dann hat mir ein Freund erzählt, dass er Amanda kennengelernt hat auf einem Klimacamp. Amanda ist Medizinerin und denkt den Gedanken von Fürsorge für den Planeten oder die Natur mit. Den Menschen geht es nur gut, wenn sie in einer gesunden Umwelt leben. Care für alles, was lebt, und alles, was uns auch erhält. Das hängt alles zusammen und ist ein Kreislauf.
„Meine Idee ist, in einer Welt zu leben, in der es möglich ist, sich gut zu kümmern.“
Samuel kenne ich über eine Freundin. Er sitzt seit fast 14 Jahren im Rollstuhl und damit hat für ihn ein neues Leben begonnen. Er ist in ganz neue Beziehungen mit Menschen getreten, in dieser Fürsorge und in diesem Care-Receiving/Care-Giving Verhältnis. Er versucht, eine Art von Care-Kreislauf zu schaffen, der allen etwas bringt, vor allem Verbindung und Gemeinschaft und Zugehörigkeit.
Mir war es von Anfang an sehr wichtig, nicht nur die Problematik zu zeigen, sondern auch einen Film zu machen, der Bock auf Fürsorge macht, und zu zeigen, wie man Fürsorge gut gestalten kann. Meine Idee ist, in einer Welt zu leben, in der es möglich ist, sich gut zu kümmern. Ich wollte herausfinden, wie so eine Welt sein kann: Wie leben Leute heute schon so oder wie arbeiten sie daran, dass sich etwas verändert? Was sind ihre Ideen und Ansätze? Ich glaube, für viele Menschen kann Fürsorge etwas sehr sehr Schönes, Sinnstiftendes, Verbindendes sein, das nur durch die Bedingungen so ausbeuterisch ist.
„Die Politik ruht sich darauf aus, dass es Leute gibt, die es sowieso machen werden. Die Rahmenbedingungen bleiben schwierig. Der Druck auf die Politik ist nicht groß genug, um wirkliche Veränderungen umzusetzen.“

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Samuel hat ein System von Assistent*innen, die ihn im Alltag unterstützen. Es gibt in deinem Film eine Szene, in der Samuel’s Assistenz kündigt. Ihr fällt es schwer, damit umzugehen, dass sie Samuel pflegt und mit ihm befreundet ist. Er geht damit gut um und hat Verständnis für ihre Entscheidung, obwohl genau das sein Wunsch ist: ein Verhältnis zu schaffen, in dem Pflege und Freundschaft zusammengehören.
Die Idee von Samuels Hausprojekt ist, dass man sich von Pflege im Austausch gegen Geld so weit wie möglich löst, sodass auch die Person, die Arbeit leistet, etwas zurückbekommt. Alle geben so viel, wie sie geben können und in den Bereichen, in denen jemand gut ist und auf die jemand Lust hat. Wir lösen uns von dem Austausch Fürsorge gegen Geld, weil dadurch ja auch Machtverhältnisse entstehen, die schwer mit einer Freundschaft zu verbinden sind. Die Idee ist nicht, dass man dabei konfliktfrei rauskommt, sondern die Konflikte gut zu behandeln und gut zuzuhören und dafür Lösungen zu finden. Dass man auch eine Welt schafft, in der wir Zeit und Raum haben, um uns mit all den Konflikten, die durch Fürsorgearbeit entstehen, beschäftigen zu können.
Wenn man Fürsorge braucht, dann braucht man sie. Du bist darauf angewiesen. Das sagt Samuel auch in dieser Szene: „Ich muss um Hilfe fragen (…). Es ist so schwierig, um Hilfe zu fragen, weil das so komisch bewertet ist. Wenn du um Hilfe fragst, bist du schwach oder hast Schuld oder hast dich zu schämen, weil du das nicht selber machen kannst.“
Ich muss um Hilfe fragen und es ist auch nicht einfach, um Hilfe zu fragen, weil man verurteilt wird, weil man dann schwach ist und als bedürftig angesehen wird. Wir kennen es alle, dass man merkt, es fällt mir total schwer, zu zeigen, dass es mir gerade nicht gut geht und ich Unterstützung brauche. Dann ist die Person angewiesen auf einen Vater wie Arnold, der sagt „Klar, mache ich das jetzt“ oder die vielen Mütter dieser Welt, die dann in diese Position kommen. Arnold findet, die Liebe der Angehörigen werde ausgenutzt. Die Politik ruht sich darauf aus, dass es Leute gibt, die es sowieso machen werden. Die Rahmenbedingungen bleiben schwierig. Der Druck auf die Politik ist nicht groß genug, um wirkliche Veränderungen umzusetzen.
Pflege ist eigentlich ein großes Geschlechterthema, das in deinem Film gar nicht direkt angesprochen wird. Woher kam diese Entscheidung?
Es wird immer ein bisschen nebenbei von den Protagonist*innen angesprochen. Es sind kleine Kommentare, „Fürsorge ist weiblich und zweitrangig“. Bei Bozena, bei den Pflegekräften zum Beispiel, sind es eigentlich nur Frauen, mit denen sie sich in der Gewerkschaft organisiert. Mir war es wichtig, eine Utopie oder einen Ausblick auf Pflege zu zeigen. Durch Arnold und durch Samuel, der ja auch einen Freund hat, der ihn pflegt, hoffe ich darauf, dass sich stereotype Bilder von Fürsorge auflösen. Pflege ist nicht unmännlich. Es ist eine total schöne Tätigkeit, die verbindet. Ich hatte den Wunsch, das unkommentiert zu zeigen, um neue Bilder zu schaffen, mit denen sich Leute neu identifizieren. Ich hoffe, dass auch cis Männer den Film sehen und sich anders mit diesen Tätigkeiten identifizieren können und darin einen neuen Wert und eine Möglichkeit für sich sehen. Ich möchte männliche Figuren zeigen, die sich fürsorglich verhalten und damit auch dazu beitragen, dass sich gerade in den Geschlechterrollen etwas verändert.
„Ein großes Ziel meines Films war, Welten sichtbar zu machen, die sonst in der Unsichtbarkeit dem Bewusstsein entgehen.“

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Dein Film hatte seine Deutschlandpremiere bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck und seine internationale Premiere beim FIFDH in Genf und lief beim CPH:DOX. Wie reagiert das Publikum auf deinen Film?
Viele sind sehr berührt. Ich habe viel Liebe gespiegelt bekommen, was total schön ist. Das Festival in Genf ist ein sehr politisches Festival und die Filmvorführungen werden mit Debatten verbunden. Bei einem Screening war das Filmteam eingeladen, Protagonist*innen und Care-Arbeiter*innen diskutierten bei dem anderen Screening, was meiner Meinung nach eine tolle Idee ist. Der Film bietet eine gute Plattform, sich der Fürsorge der Welt bewusst zu werden und auch so emotional den Leuten nahe zu kommen, die man oft nicht sieht. Ein großes Ziel meines Films war, Welten sichtbar zu machen, die sonst in der Unsichtbarkeit dem Bewusstsein entgehen. Ich wünsche mir, dass durch meinen Film noch mehr Leute auf die Welt blicken können und sich fragen: Was ist mir wichtig, sind mir meine Beziehungen wichtig oder ist mir mein Cash wichtig?
Mir ist bewusst, dass wir uns dazu nicht immer frei entscheiden können, weil es auch ein strukturelles Problem ist. Das ist mir ja auch selbst passiert, dass ich bei dem Tod meiner Freundin Kathrin gemerkt habe: Ich habe gar nicht die Freiheit, mich damit die ganze Zeit zu beschäftigen, weil ich mich auch um meinen Verdienst kümmern muss und um alles, was ansteht.
Das gesellschaftliche Bewusstsein für diese Schieflage kann langfristig auch eine politische Veränderung bringen.
„Ich möchte männliche Figuren zeigen, die sich fürsorglich verhalten und damit auch dazu beitragen, dass sich gerade in den Geschlechterrollen etwas verändert.“
Du sprichst deine persönliche Erfahrung mit dem Tod deiner Freundin an. Deine Freundin Kathrin hat sich das Leben genommen, während du im Rechercheprozess zu diesem Film warst. Was hat das mit dir gemacht und wie war für dich der Prozess, davon auch in deinem Film zu erzählen?
Ich war auf einer Recherchereise von Amanda zu Arnold im Zug, als das passiert ist. Natürlich hat erstmal die Welt stillgestanden und ich habe total getrauert und war mit der Situation konfrontiert. Aber ich habe sehr früh gemerkt, dass sich der Gedanke eingeschlichen hat: Gott, Annelie, genau dazu recherchierst du und genau das passiert gerade: scheinbar hat es jemandem genau vor meinen Augen an Fürsorge gemangelt. Und ich will das gar nicht unterkomplex erzählen, weil Suizid, die Gründe für Suizid, die kann man nicht vereinfachen.
Wir alle lernen, wir sollen nicht abhängig sein, und wir müssen alleine klarkommen und wir müssen unser Leben selbst im Griff haben. Jemanden zu brauchen ist eigentlich anstrengend und setzt einen selber unter Druck, weil man andere beanspruchen muss.

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Kathrin ist es schwergefallen, um Hilfe zu fragen. Und da habe ich mich gefragt: Könnte das anders sein? Könnten wir in einer Welt leben, in der es die Möglichkeit gibt, Schwäche zu zeigen, ohne Angst zu haben, dafür stigmatisiert zu werden?
Kathrin hatte eine Bipolar-Diagnose. So eine Diagnose beinhaltet, dass du auf der einen Seite sehr depressive Phasen und auf der anderen Seite manische Phasen hast, in denen die Person ihr Umfeld mal überfordert. Doch warum ist das Umfeld überfordert? Ist das wegen der Person, die die Bipolar-Diagnose hat, oder ist es, weil das Umfeld eigentlich keinen Raum hat, um mit Dingen umzugehen, die aus der Reihe tanzen und die irgendwie „anders“ sind? In meiner Vorstellung ist Kathrin jetzt an einem Ort, an dem sie sein kann, wie sie ist. Wo die Welt Raum dafür hat, sich um sie zu kümmern, und es nicht überfordernd ist, dass sie nachts aufwacht und die verrücktesten Ideen hat. Sondern jemand sagt: Okay, dann bleibe ich jetzt mit dir wach und wir machen etwas Verrücktes, ich muss morgen nicht um acht Uhr aufstehen, sondern ich kann mich dem widmen. Und am schönsten wäre es doch, wenn dieser Ort hier auf der Welt wäre und das wirklich ginge.
„Könnten wir in einer Welt leben, in der es die Möglichkeit gibt, Schwäche zu zeigen, ohne Angst zu haben, dafür stigmatisiert zu werden?“
Die zärtliche Revolution ist dein erster langer Dokumentarfilm. Wie war das für dich? Was hast du aus deinen Kurzfilmen mitgebracht? Was war total toll daran, einen Langfilm zu machen?
Anders war vor allem die Dauer und der Aufwand. Ich habe mich um vier Protagonist*innen und meine eigene persönliche Geschichte gekümmert. In allen Bereichen dieser vier Menschen ist sehr viel Flexibilität gefordert und wir mussten immer wieder umplanen und uns anpassen. Einen Langfilm zu machen, ist einfach etwas ganz anderes als ein Kurzfilm, das musste ich erstmal lernen.
Ich habe vier Protagonist*innen gewählt, und ich dachte vorher: Ich mache einfach vier Kurzfilme, dann habe ich einen Langfilm [lacht]. Aber auch wenn ein Kurzfilm 15 oder auch 30 Minuten hat, oft kriegt man gar nicht so eine krasse Entwicklung der Protagonist*innen mit. Für einen Langfilm ist es super wichtig, diese Entwicklung mitzukriegen. Die Herausforderung war auch, dass wir für einen Dokumentarfilm einen kurzen Drehzeitraum hatten. Den Prozess von Samuels Hausprojekt hätte ich gerne länger begleitet.
Bei einem beobachtenden Dokumentarfilm mit vier Protagonist*innen bleiben nicht viele Drehtage pro Protagonist*in übrig. Der Druck, an jedem Drehtag verwendbares Material zu drehen, ist groß. Wir arbeiten mit Menschen in ihrem realen Leben, nicht mit Schauspieler*innen, da ist auch mal jemand schlecht drauf oder hat einen schlechten Tag. Und wenn ich schon einen Film über Care mache, dann will ich mich auch gut um die Protagonist:innen kümmern. Da kommt dann die strukturelle Herausforderung dazu: Filmemachen ist ein sehr teures Business und auch da ist es wichtig, an allen Ecken einzusparen. Es bleibt wenig Geld und Zeit, sich fürsorglich um alle Beteiligten zu kümmern und auch selbstfürsorglich zu sein. Ich habe irgendwann realisiert, wie ich einen Film über Fürsorge drehe und mich selbst ziemlich ausgebrannt fühle. Dieser Widerspruch eine Utopie zu erzählen, die ich selbst nicht hinbekomme.

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Ich konnte als Regieassistenz einige Drehtage begleiten und habe gespürt, wie wichtig es dir war, das Team einzubinden und das Wohlbefinden aller auf dem Schirm zu haben. Das ist in der Filmbranche nicht immer so.
Wahrscheinlich sehe ich es jetzt im Nachhinein so, weil ich danach so fix und fertig war. Es gab sehr viele sehr schöne Momente und ich habe mit allen vier Protagonist*innen eine Freundschaft aufgebaut. Ich glaube, es war für alle vier eine anstrengende Zeit. Es ist nicht ohne, wenn ein Filmteam in dein Haus einfällt. Gerade deshalb war mir wichtig, die vier auszuwählen, weil alle vier ein Interesse an dem Film haben, weil ihnen allen der Film auch was bringt. Sie haben eine Agenda und sagen: Sie wollen etwas verändern in der Welt und sie können den Film als Plattform nutzen. Samuel zum Beispiel hat gesagt: Mir ist es total wichtig, in der Sauna zu drehen, weil behinderte Körper so wenig gesehen werden, und ich will, dass man diese Nähe und Nacktheit und Körperlichkeit erzählt. Alle Protagonist:innen haben ganz viel Initiative gezeigt, weil sie gemerkt haben, dass sie den Raum für sich nutzen können. Gerade bei sehr intimen Filmsituationen war das wichtig. Film ist auch ein Machtinstrument und wenn eine Kamera anwesend ist, macht das was. Das verschiebt die Aufmerksamkeit.
„Ich habe irgendwann realisiert, wie ich einen Film über Fürsorge drehe und mich selbst ziemlich ausgebrannt fühle.“
Was hast du als Dokumentarfilmerin in diesem Prozess mitgenommen?
Es gibt einen Begriff: Cine Therapy. Man zeigt Filme in Kontexten, in denen Leute sich schwer tun, über ihre Themen zu sprechen, aber dadurch, dass sie Protagonist*innen sehen, die mit den gleichen Themen kämpfen, entsteht ein Raum, über Themen zu sprechen. In Genf ist genau das passiert: Da waren ganz viele Leute, die sich geöffnet haben mit ihren Themen bezüglich Fürsorge. Da ist ganz viel Verbindung entstanden.
Der Filmprozess und die Nähe zu den Protagonist*innen haben auch bei mir eine ganz starke Verbindung erzeugt. Vorher war es meine Idee und Utopie: Fürsorge schafft Verbindung und Abhängigkeit kann als etwas Schönes empfunden werden, das habe ich gespürt.
Bei der Kinotour werden die Protagonist*innen teilweise auch dabei sein. Das ist auch schön, weil man dann die Möglichkeit hat, in den Austausch zu gehen. Und das war auch ein großer Wunsch von mir, über den Film hinaus Netzwerke zu schaffen, wie es zum Beispiel in Genf passiert ist. Und das ist ja irgendwie auch die Idee der Care-Revolution, dass durch diese Vernetzung der unterschiedlichen Kämpfe, die so isoliert sind, weil sie so unsichtbar sind, eine Fürsorge-Revolution entstehen kann.
„Fürsorge schafft Verbindung und Abhängigkeit kann als etwas Schönes empfunden werden, das habe ich gespürt.“
Liebe Annelie, vielen Dank für das Gespräch und deinen Film!
Kinostart: 14. August 2025

© Foto: privat
Über die Gast-Löwin:
Lea Lünenborg hat Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig und Bremen studiert und arbeitet aktuell in Berlin in der Filmproduktion und der Organisation von Filmfestivals. Sie interessiert sich vor allem für historischen Film und gesellschaftskritischen Film.




