Berlinale 2025: Zirkuskind
Anna Koch & Julia Lemke, das Badabum Duo, haben sich in ihrem dritten gemeinsamen Film Zirkuskind erneut einer Beobachtung einer gesellschaftlich selten beachteten Szene gewidmet: Über ein Jahr begleiten sie den 10-jährigen Santino, dessen Familie den Zirkus Arena bildet und beleuchten dabei das Leben moderner Nomad*innen in Deutschland. Der Film feiert Weltpremiere bei der diesjährigen Berlinale in der Sektion Generation.

© Julia Lemke / Flare Film
___STEADY_PAYWALL___Santino ist ein aufgeweckter, fröhlicher Junge, der auf Bäume klettert, Pokemon-Karten tauscht und sehr gerne den Geschichten seines Uropas Ehe lauscht. Gemeinsam mit seinem Bruder Giordano wächst er in einer Familie auf, die seit vielen Generationen einen Zirkus betreibt und Vorstellungen in ganz Deutschland gibt. Kaum ein Aspekt seines Lebens ist zu trennen vom Zirkus Arena: Santino hilft wie selbstverständlich bei Auf- und Abbau, verteilt vor den Vorstellungen Leuchtstäbe an das Publikum und unterstützt die Künstler*innen bei ihren Auftritten. Das wirkt weder überfordernd noch anstrengend für Santino, er scheint das Treiben zu lieben und die Umgebung von Team und Publikum zu genießen. Auch das Umziehen, das mit vielen Schulwechseln und dem ständigen Verlassen von Freund*innenschaften verbunden ist, stört ihn kaum und er erfreut sich an den Kontakten, die er knüpft und den Freund*innenschaften, die er über ganz Deutschland verteilt sammelt. Santino hat Freude daran, die unterschiedlichen Künste und Showeinlagen des Zirkus zu begleiten und auszuprobieren – das liebevolle Drängen seines Opas, sich für eine Disziplin zu entscheiden und selbst in die Manege zu gehen und damit in die nächste Generation der Zirkusartist*innen einzutreten, übergeht Santino gekonnt.
Trotz des anstrengenden Alltags, der langen Arbeitstage und des mobilen Lebens im Sommer wie Winter erleben wir als Zuschauende vor allem die Community des Zirkus Arena als besonders verbunden und stark. Santino wird als Kind sehr viel Freiraum gelassen, er unterstützt, wenn er kann und bereitet seinem Vater ein ums andere Mal Mehrarbeit, die dieser lächelnd meckernd leistet.

© Julia Lemke / Flare Film
Koch und Lemke schaffen es auf erstaunlich liebevolle Weise, das Leben des Zirkus Arena aus den Augen Santinos darzustellen und uns mitzunehmen in diese Welt, die den Zuschauenden ungewöhnlich und Santino so selbstverständlich erscheint. Stilistisch unterstützen sie vor allem die Erzählungen Opa Ehes mit einfach skizzierter, farbenfroher Animation und öffnen uns damit das Fenster in ein generationenübergreifendes Bild des Lebens nicht nur als Zirkus-, sondern auch als Sinti*zze-und-Rom*nja-Familie in Deutschland. Dabei wird die Vertreibung und Vernichtung während des Nationalsozialismus sowie bis ins Heute reichende gesellschaftliche Ausgrenzung angeschnitten.
Tiefer gehen die Konflikte jedoch kaum – weil wir den Großteil der Beobachtung aus Santinos Blickwinkel machen, mangelt es dem Film mitunter an der intensiveren Beschäftigung der Lebensrealität der Zirkusfamilie Frank. Obwohl wir Santinos Familie nah kommen, Bilder aus den unterschiedlichen Wohnwägen des Zirkus, Feste wie Santinos Geburtstag begleiten, werden private Momente, klassische Filmelemente wie gemeinsame Essensrituale, ausgespart. Wir kommen den Protagonist*innen emotional nur bedingt nah. Santinos Mutter wird vorgestellt, taucht aber wenig im Film auf und es fällt schwer, ihre Beziehung zu Santino zu verstehen. Auch wenn Arbeits- und Privatleben in einer Zirkus-Familie eng miteinander verknüpft sind, bewegt Zirkuskind sich eher auf der Arbeitsebene und das Privatleben der Familie Frank mit all seinen Konflikten und Hürden bleibt den Zuschauenden verwehrt. Dadurch werden auch die gesellschaftlichen Konflikte, die das Leben einer Zirkusfamilie in Deutschland betreffen, zwar teilweise benannt, aber für die Zuschauenden nicht spürbar gemacht.
Zirkuskind ist ein beobachtender Dokumentarfilm, der auch durch das Stilmittel der Animation das Positive des Zirkus-Leben betont. Durch die Augen eines Kindes erleben wir die aufregende Zirkuswelt durch alle vier Jahreszeiten – dieser Blickwinkel führt mitunter auch dazu, dass wichtige gesellschaftliche Themen weniger detailliert thematisiert werden. Als Zuschauende erleben wir Familie Frank in ihrem Arbeitsumfeld und weniger in ihrem Privatleben. Mit Zirkuskind schaffen Julia Lemke und Anna Koch es, die Besonderheiten des Zirkuslebens zu verdeutlichen ohne Vergleiche aufzumachen oder eine Wertung vorzunehmen.
Zirkuskind feiert Weltpremiere auf der Berlinale 2025 und ist in der Sektion Generation Kplus zu sehen.

© Foto: privat
Über die Gast-Löwin:
Lea Lünenborg hat Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig und Bremen studiert und arbeitet aktuell in Berlin in der Filmproduktion und der Organisation von Filmfestivals. Sie interessiert sich vor allem für historischen Film und Archivfilm.