Berlinale 2023: Tótem

Es herrscht großes Gewusel im Haus von Sols Großvater. Tante Nuria (Montserrat Marañon) verwirklicht sich selbst im kunstvollsten Kuchen, den die Welt je gesehen hat, und Tante Alejandra (Marisol Gasé) lässt noch schnell das Haus von bösen Geistern reinigen. Aufregung liegt in der Luft, denn es soll eine Party für Sols Vater Tona (Mateo García Elizondo) stattfinden. Viele Leute sind eingeladen und alles soll ganz besonders perfekt sein. Denn es ist nicht irgendeine Party. Es ist die vielleicht letzte Geburtstagsparty des 27 Jährigen, denn Sols Vater ist sterbenskrank.

Ein Mädchen, Sol, liegt mit dem Kopf auf einem Polster. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig.

© Limerencia

___STEADY_PAYWALL___ Die dynamische Handkamera von Diego Tenorio ist immer nah an den Figuren oder den zahlreichen Tieren und Insekten, die Haus und Garten bevölkern. Ohne Establishing Shots und im 4:3 Format gefilmt, bleibt der Ort des Geschehens von Tótem ein unübersichtliches Labyrinth aus Räumen, Gängen, Terrassen und Gartenflächen, in dem sich Sol (Naíma Sentíes) verliert, während sie auf eine Begegnung mit ihrem Vater wartet. So spiegelt sich auch auf ästhetischer Ebene die Verlorenheit des siebenjährigen Mädchens, das diesen Tag und seine Ereignisse nicht recht zu fassen imstande ist.

Durch die Unmittelbarkeit der Inszenierung wirft Regisseurin Lila Avilés ihr Publikum mitten hinein in das geschäftige Treiben. Avilés bleibt der Perspektive der jungen Hauptfigur dabei nicht durchgehend treu, zeigt auch Szenen ohne das kleine Mädchen, beispielsweise Tonas anstrengende Vorbereitungen auf den Abend hinter verschlossenen Türen, bei denen ihm die Pflegekraft Cruz (Teresita Sánchez) zur Seite steht. So portraitiert Avilés nicht nur Sol, sondern nimmt in Tótem die gesamte Familie und deren Emotionen in den Blick. Immer wieder gibt es Konflikte zwischen den Geschwistern – sei es bezüglich der anstehenden Feier oder den nächsten Behandlungsschritten für den kranken Bruder. Und wo Tona mit seiner Entscheidung gegen die Chemotherapie bereits aufgegeben hat, versuchen die anderen nun mit esoterischen Ritualen doch noch eine Heilung zu erwirken. Auch für Sol gibt es nur einen Wunsch: Papa soll wieder gesund werden.

Eine Frau mit milimeterkurzen Haaren hat ein Mind mit langen haaren auf dem Harm. Die Frau schaut ernst, die hat Schatten unter den Augen. Das Mädchen lächelt.

© Limerencia

Doch Tótem ist kein erdrückend trauriger Film. Im Gegenteil ist die Inszenierung von Lila Avilés betont lebendig, voller alltäglicher Familiensituationen, die zum Schmunzeln anregen und Tonas Geschichte in den Hintergrund treten lassen. Denn das Leben geht auch im Angesicht des Todes weiter. Tona mag in seinem Hinterzimmer in einer Art lethargischem Stillstand gefangen sein, doch im restlichen Teil des Hauses herrscht ein buntes Treiben, in dem die Trauer um den kranken Bruder über weite Strecken nur ein Unterton ist.

Und dann ist es in Tótem doch gerade diese Lebendigkeit, die Fröhlichkeit, die Traurigkeit erzeugt. Die bunte Feier, die die letzte sein wird. Das Geschenk, das Tona seiner Tochter macht: Ein selbstgemaltes Bild mit ihren Lieblingstieren, damit sie diese immer sehen kann, als Erinnerung. Die Ankündigung des eigenen Todes bleibt vage und ist doch schmerzhaft präsent in diesem intimen Moment der familiären Liebe und Zärtlichkeit. Und auch in der Karaoke-Performance, die Sol mit ihrer Mutter für den Vater vorbereitet hat, liegt neben allem Spaß auch eine Trauer, die in Tonas Gesicht ihren Ausdruck findet. Freude und Schmerz, Liebe und Leid – sie liegen so nah beieinander.

Ein Mädchen, Sol, schaut mit ernstem Gesicht zur Seite. Sie sieht gedanklich abwesend aus. Vor ihr sehen wir am unteren Bildrand die Spitzen von Kerzenflammen.

© Limerencia

Die Regie von Lila Avilés ist beeindruckend. Sie führt ihre Schauspieler:innen – zum Teil Lai:innen, zum Teil Kinder – zu einer durchgehend überzeugenden Performance, die wiederum Lebensnähe suggeriert. Als Zuschauer:innen haben wir in Tótem das Gefühl mitten in den Vorbereitungen zu stehen, das Gewusel um uns herum, die echten Menschen vor der Nase. Avilés hat den Überblick über das Chaos dieser Geschichte, erschafft eine konsistente Grundstimmung, fügt die vielen kleinen Episoden dieses Tages der häuslichen Vorbereitungen zu einem großen Bild zusammen, zu einer Idee davon, wie die Familie eine Person aus ihrer Mitte gleichzeitig feiert und verabschiedet.

Vorführungen bei der Berlinale 2023

Sophie Charlotte Rieger
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