Berlinale 2023: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Im Sommer 1990 in einem Dorf in Thüringen sieht vieles unverändert und zeitlos aus und doch befindet sich alles im Umbruch. Wiedervereinigung, Währungsunion, neue Produkte, Betriebsschließungen und Entlassungen, das unaufhaltsame Passieren der innerdeutschen Grenze. Inmitten aller Transformationen bleibt die schweißtreibende Arbeit an Hof und Feld der Brendels dieselbe. Die 19-jährige Maria lebt bei der Familie ihres Freundes Johannes und zieht sich lieber mit ihren Büchern zurück als mitanzupacken. Der Westen ist plötzlich zum Greifen nahe. Johannes verspürt auf einem Ausflug nach München Enthusiasmus und träumt von einem Kunststudium, Maria jedoch hat bald ganz andere Dinge im Kopf – eine Amour Fou lässt alles bisher Dagewesene unwichtig erscheinen. Regisseurin Emily Atefs (u.a. Mehr denn je, 3 Tage in Quiberon) Erzählung einer explosiven Leidenschaft basiert auf dem gleichnamigen Debütroman von Daniela Krien, mit der sie auch gemeinsam das Drehbuch verfasste. ___STEADY_PAYWALL___

© Pandora Film / Row Pictures

Die Liebe erfährt Maria in Irgendwann werden wir uns alles erzählen wie eine stürmische Naturgewalt, die unvorhersehbar über sie herfällt. Bereits der ersten Begegnung mit dem 40-jährigen Henner (Felix Kramer) wohnt eine physische Spannung inne, die alles zum Beben bringt. Der einsame Mann mit seinen zwei Hunden hat die 19-jährige Maria (Marlene Burow) ins Visier genommen und lockt sie beim nächsten Aufeinandertreffen in der Sommerhitze der Weizenfelder behutsam in „seine Höhle“. Wenig Worte wechseln die beiden, denn ihre Sprache passiert über Blicke und Berührungen. Henner tritt bestimmend auf, Maria beobachtet ihn unterwürfig und gewährt seine zunächst langsamen Annäherungen. Erst zieht er sie aus, dann sich selbst, kommt ihr näher. Mit einem Mal packt er sie ruckartig, heftig, fast gewaltvoll, presst ihren Körper an seinen. Es ist der Beginn einer geheimen Liebesbeziehung. Er solle mit ihr machen, was er wolle, sagt Maria später – es ist der Beginn eines intensiven erotischen Miteinander. Atef schafft eine gelungene Balance, indem sie für die Inszenierung des Amour-Fou-Verhältnisses eine feine Linie zwischen aufwallendem Begehren und schmerzvoller Brutalität zieht. Marias Reaktionen stehen visuell stets im Fokus der Kamera und beide Körper sind gleichsam in ihren Bewegungen zu sehen. In der Beobachtung von Marias Reaktion baut sich anfangs zunächst eine Spannung auf, ihre Zustimmung zu Henners Handlungen wird aber nach seinem ersten kräftigeren Impuls sogleich hör- und sichtbar. 

© Pandora Film / Row Pictures

Die Leidenschaft reißt wie ein Sturm über Marias Leben herein und wird zur Liebe, für die der sichere Hafen mit Johannes (Cedric Eich) ihr Glück mit Henner hindert. Dass in den Dörfern niemand von Maria und Henners Liaison erfahren darf, liegt vor allem für ihn auf der Hand: Denn das Gerede der Bewohner:innen könnte die 19-jährige, die noch ihr ganzes Leben vor sich hat, in die Einsamkeit treiben. Johannes steht unentwegt in der Dunkelkammer, um seinem Zukunftstraum eines Kunststudiums in Leipzig näherzukomme., Marias plötzliche emotionale Höhen und Tiefen erklärt er sich mit derArbeitslosigkeit ihrer Mutter. Währenddessen reist auch noch der Onkel aus München an und ein Großteil der Brendel – Familie fühlt den Wende-Aufbruch förmlich. Doch für Maria gibt es nur noch das eine Ziel: zu Henner laufen, ihn spüren, ihn zu lieben, sich ihm zu unterwerfen.

© Pandora Film / Row Pictures

Ob wir als Zuschauer:innen die klar auf der Dominanz des älteren Mannes basierten Sexfantasie von Atef und Krien teilen können oder nicht: der Film schafft es, die gelebte Intensität Marias spürbar werden zu lassen. Marlene Burow bleibt subtil und doppelbödig in ihrem Ausdruck,  kontrastiert mit Cedric Eich, der als Johannes den lieben Typ von nebenan spielt, der seinen Reiz für Maria verloren hat. Während er selbst stark von seiner beruflichen und künstlerischen Zukunft angetrieben wird, erfahren wir aber nichts von Marias Träumen. Seine Leidenschaft ist die Kunst, ihre die Obsession zu Henner. Sie schwänzt die Schule und liest gern, doch wie denkt sie über den gesellschaftlichen Umbruch, wo möchte sie hin? Die ältere Generation sagt, der jüngeren stehe nun alles offen. Wenn sie den zahlreichen Tischgesprächen der Familie ihres Freundes lauscht, hält sich Maria zurück. An Maria rauscht all das immer mehr vorbei und ihr Ziel ist nur noch Henner. Sie ist verliebt, besessen von diesem archaisch wirkenden Bild des schweigsamen, impulsiven Mannes.

Wie im körperlichen Zusammenspiel hält auch Henner die Zügel in der Hand, wenn es um eine mögliche gemeinsame Zukunft der beiden geht. Selbst verlassen – seine Frau entpuppte sich als Stasi-Kollaborateurin und ging in den Westen – betrachtet er sein erst 40-jähriges Dasein von Anfang an als verschlossen gegenüber neuen Zukunftsplänen. Der 19-jährigen erklärt er, dass sie ihre Gefühle und Meinungen in ihrem Leben noch oft genug ändern werde und fordert sie indirekt dazu auf, ihre Vernunft über ihre Gefühle zu stellen. Irgendwann werden wir uns alles erzählen impliziert bereits im Titel jenen vorausschauenden Blick aus einer Zukunft in die Vergangenheit. Irgendwann können wir eine vergangene Obsession neu betrachten, ehemalige Entscheidungen neu erwägen, doch im Moment ihres Aufkeimens bleiben die Gefühle – ob Liebe, Freude oder Schmerz. Mit einer Interpretation von Patti Smiths „Dancing Barefoot“ am Schluss der Erzählung, hören wir deren Kern, die Gefühlswelt der Protagonistin, nochmal in wenigen Worten: „I’m addicted to thee“. Emotionale Abhängigkeit, Dominanzverhältnisse und Obsession werden in Irgendwann werden wir uns alles erzählen untrennbar. Muss solch eine Liebe eine Zukunft haben können? Im Falle von Maria und Henner lässt sich erahnen, wohin der Weg am Ende führt.

 Im Berlinale Wettbewerb 2023 noch bis 26.2.: Screeningtermine

Bianca Jasmina Rauch
Letzte Artikel von Bianca Jasmina Rauch (Alle anzeigen)