Woche der Kritik 2021: Kunstsprache
Zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein könnten, brachte die Woche der Kritik dieses Jahr unter der Debattenüberschrift Kunstsprache zusammen. Zwei Elemente teilen sie: Es geht um Jugendliche und einen jeweils sehr eigenen filmischen Umgang.
Freizeit oder: Das Gegenteil von Nichtstun
Sie sitzen im Park, im Plenum, in ihren Kinderzimmern. Gemeinsam machen sie sich Gedanken über die Leistungsgesellschaft, Wertevermittlung in der Schule, das kapitalistische System, Alltagssexismus und Gentrifizierungsprozesse in ihrem Kiez. Die fünf Jugendlichen Bene (Jasper Penz), Mira (Juno Groth), Marta (Lilly Marie Dressel), Oskar (Maxim Hartig) und Lotta (Mila Wischnewski) sind sich immer einig.
Caroline Pitzen entwickelte in ihrem Langfilmdebüt gemeinsam mit den fünf Laiendarsteller:innen das Abbild einer politisch aktiven privilegierten, weißen Jugend. Selbstreflexion ist in ihren Gesprächen das Zauberwort. Alles sollte reflektiert werden: Die eigenen Privilegien, die Rolle in der Gesellschaft, wie eins als erwachsener Mensch leben möchte. Hierfür wird Karl Marx’ Manifest zu Rate gezogen (natürlich) und Kurt Tucholsky. Fast dokumentarisch, durch die langen, statischen Kameraeinstellungen, durch die authentisch wirkenden Dialoge, kommt der Film daher. Dabei rückt die Kamera von Markus Koob den Darsteller:innen nie zu nahe, es bleibt ein respektvoller Abstand. Die Jugendlichen waren aktiv an der Stoffentwicklung beteiligt, das Projekt kollektiv angelegt.
Sie bereiten Demonstrationen vor und gehen in ihre alten Schulen zurück, um jüngere Mitschüler:innen über Sex und Gleichstellung aufzuklären. Sie tauschen sich abends beim Wein über sexistische Vorfälle beim nächtlichen Heimweg aus und finden, alle sollten sich frei bewegen können. Leider bleibt der Film hier etwas unscharf und die Auseinandersetzung, Aufarbeitung und Diskussion sexualisierter Gewalt obliegt (mal wieder) zwei der Darsteller:innen. Linke Männer sind scheinbar nicht Teil des Problems und müssen daher auch keine Stellung beziehen, die Gewalt kommt von anderen, denen „es nicht beigebracht wurde, wie man mit Menschen umzugehen hat“.
Was heißt es denn zu kämpfen, fragen sich die Protagonist:innen. Es gäbe auch die Möglichkeit, subversiv zu kämpfen, im alltäglichen Leben die eigenen Werte weiterzutragen. Allerdings scheint das nur bis zu einem gewissen Punkt zu gelten, bis zum Geburtstagskaffeetisch der Oma, um genau zu sein: In einem Gespräch tauschen sich zwei der Darstellerinnen darüber aus, dass sie rassistische Äußerungen innerhalb des Familienkreises besser nicht angesprechen, solange es die Harmonie stören könnte. Hier wird deutlich, wie schwierig die Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte noch immer ist – doch wenn Vergangenheitsbewältigung nicht im Privaten stattfindet, wie soll sie dann im Politischen nachhaltig funktionieren können?
Ob die Jugendlichen auch sich selbst reflektieren oder, ob es nur Caroline Pitzen ist, die sie beobachtet, lässt die Szene am Schluss, in der aus Ronald M. Schernikaus Keinstadtnovelle von 1977 vorgelesen wird, offen: „Sie alle sind 17 und nie geschlagen worden, haben keine Neurosen und niemand wird ernstlich Schwierigkeiten haben später, wenn das mit der akademischen Arbeitslosigkeit nicht schlimmer wird.“
A Museum Sleeps
Camille De Chenay beschäftigt sich in ihrem fiktionalen Langfilmdebüt auch mit der Jugend. Es geht um die obsessive Beziehung zwischen Ornicar (Gary Guénaire) und Chloé (Nadia Tereskiewizc). Es geht ums Fortgehen und Zurückkehren, ums Suchen, Finden und Verlieren.
Begleitet von Klavierakkorden, sehen wir zu, wie Ornicar durch Paris wetzt, auf der Suche nach seiner verschwundenen Ehefrau Chloé. In ihrer Wohnung, in der er sie anzutreffen hofft, wohnt nun jemand anderes. Einen Hinweis ließ sie ihm allerdings da: Eine Postkarte mit dem Ausschnitt eines Gemäldes des Symbolisten Gustave Moreau, Jupiter und Sémélé. Als er verzweifelt versucht die verschlossene Tür zum Moreau-Museum zu öffnen, läuft ungläubig ein Mann an ihm vorbei mit den Worten: “Eure Generation weiß nicht, wohin mit ihren Gefühlen.”
So sehen das auch die Bäume, Büsche und Gräser, die ab und zu über das Paar philosophieren. Geradezu über-verständnisvoll begegnen Fremde Ornicar, dessen Versinken im Selbstmitleid kaum zu ertragen ist. Durch die temporeiche Klaviermusik von Julien Breval, die Verstärkung von knarrenden Dielen oder das Streichen über Baumrinde, wird die Melodramatik geradezu fühlbar. Es fällt schwer sich von Ornicar abzugrenzen, selbst als er seine Schwester aufsucht und nach Chloé fragt. Auch sie hat er verlassen, um ein anderer Mensch zu werden, die Schwester reagiert darauf mit erhobenem Mittelfinger. Ein Sympathieträger ist Ornicar sicher nicht.
Solche Szenen machen die Handschrift einer weiblichen Regisseurin sichtbar. Camille De Chenay hat die wenigen Dialogszenen mit grandioser Ironie geschrieben und dabei ganz ernsthaft inszeniert. Das macht diesen surrealen Film mit seinen schrägen Schnitten von Lison Talagrand und der wilden Kameraführung von Maxime Bonan aus. Ein Hin und Her zwischen unvoreingenommener Empathie und belächelnder Ungläubigkeit, den Figuren und ihrer Beziehung gegenüber. Und ein erleichtertes Aufatmen, als Chloé Ornicar am Ende deutlich macht, dass sie nicht ein Jahr stillgesessen und auf ihn gewartet, sondern ihr Leben weitergeführt hat – ohne ihn.
Um sich die Frage zu stellen, ob es einen bestimmten Slang in den Filmen gäbe und welche Methoden dafür herangezogen wurden, lud die Woche der Kritik die US-amerikanische Filmemacherin Jennifer Reeder, die Sozialphilosophin Rahel Jeaggi und Caroline Pitzen selbst ein. Das Gespräch dauerte knapp zwei Stunden und war sehr kurzweilig. eine Debatte war es allerdings nicht, denn wie in Pitzens Film, waren sich die drei Frauen meist einig. Auffällig war, dass an A Museum Sleeps weitaus mehr Kritik geübt wurde als an Freizeit oder: Das Gegenteil von Nichtstun. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Pitzen die Möglichkeit hatte – im Gegensatz zu De Chenay -, sich gegen die Kritik an ihrem Film zu verteidigen. Etwa bei der Frage, warum ihr Cast nicht diverser gewesen sei: Das hätte sich letztlich natürlich so ergeben, denn die Jugendlichen mussten sich dazu verpflichten, in ihrer Freizeit dieses Filmprojekt unentgeltlich mit ihr zu machen und ja, das können sich eben nicht alle leisten.
Die Woche der Kritik plant wie die Berlinale ebenfalls eine physische Festivalausgabe im Sommer. Spätestens dann werden beide Filme noch einmal zu sehen sein. Ob es nun Sinn macht, die Filme zusammen und im Vergleich zu sehen, können die Besucher:innen dann selbst entscheiden.
- DOK.fest München 2021 – Vier Portraits über Frauen - 14. Mai 2021
- Drei Gedanken zu: The United States vs. Billie Holiday - 27. April 2021
- Woche der Kritik 2021: Kunstsprache - 9. März 2021