Kurdisches Filmfestival 2019: On her Shoulders

„Wie haben sie dich vergewaltigt?“, „Was waren das für Männer? Wie viele?“ „Haben die Männer mit dir gesprochen?“, „Konntest du ‘nein’ sagen?“, „Hast du dich gewehrt?“- Die Fragen der Presse, die aus dem Off auf Nadia Murad einprasseln, sind erdrückend. Selbst auf das Publikum in der Vorführung des Dokumentarfilms On her Shoulders beim Kurdischen Filmfestival in Berlin legt sich eine spürbare Beklemmung. Seit die heute 26 jährige Jesidin Daesh (die sich selbst als “Islamischer Staat” bezeichnen) entkam, die sie 2014 aus ihrem Heimatdorf entführten, erzählt sie immer wieder ihre Geschichte, stellt sich immer wieder ihren Traumata. Sexualisierte Gewalt wird von Daesh gezielt als Waffe eingesetzt. Wenn Journalist_innen Nadia Murad weiterhin als Opfer, als ehemalige „Sex-Sklavin“ betrachtet, reproduzieren sie diese Demütigung.

On her Shoulders zeigt, warum Nadia Murad sich diesem Szenario dennoch aussetzt: Sie will den Mädchen* und Frauen*, die weiterhin in Gefangenschaft sind, eine Stimme geben und kämpft gegen das Vergessen des jesidischen Volkes, für eine Zukunftsperspektive nach dem Genozid und für Gerechtigkeit. Das Besondere an diesem Porträt von Filmemacherin Alexandria Bombach ist der Fokus auf Murads Leben nach der Gefangenschaft und somit auf die Zukunft für die Jesid_innen.

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© Cinephil

Bombach begleitet die Aktivistin, die dieses Label nicht recht auf sich selbst beziehen kann, bei Gesprächen mit Politiker*innen, ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und bei der Ernennung zur Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel. Gemeinsam mit ihrer Anwältin Amal Clooney kämpft sie dafür, die Islamist_innen von Daesh für den Genozid an den Jesid_innen vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.

Am meisten bewegen jedoch die Treffen mit anderen Überlebenden des Völkermords bei Gedenkveranstaltungen oder in Flüchtlingscamps. On her Shoulders fängt intime Momente einer kollektiven Trauer ein, die kaum zu ertragen sind, und zeigt gleichzeitig, wie viel Hoffnung Nadia Murad ihrem Volk zu geben imstande ist. Sie trägt nicht nur das Trauma des Genozids und der Gefangenschaft auf ihren Schultern, sondern vor allem die Verantwortung, als Stimme der Jesid_innen aufzutreten. „Aus dir ziehen sie ihre Stärke“, sagt einer ihrer Begleiter beim Gedenken zum zweiten Jahrestag des Völkermords, „Wenn du weinst, weinen sie auch“.

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Alexandria Bombach dokumentiert nicht nur die öffentlichen Auftritte und Reisen, sowie die Medienberichterstattung, sondern lässt Nadia Murad selbst zu Wort kommen. Die Regisseurin löchert sie dabei nicht mit Fragen über Details ihrer Gefangenschaft. In nüchternen Portraitaufnahmen vor einem schwarzen Vorhang hat Nadia Murad die Gelegenheit, über ihren Traum von einem Friseursalon zu berichten, der nun für immer unter den Ruinen ihres Heimatdorfs begraben ist: Als UN-Sonderbotschafterin hat sie jetzt eine andere Aufgabe und Verantwortung für das jesidische Volk. Außerdem sind die meisten Frauen*, die sie einst frisieren wollte, inzwischen tot.

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On her Shoulders ist kein Film über eine unverwundbare Superheldin. Nadia Murad ist gebrochen, erschöpft und müde und sie weiß, dass keine*r der Politiker*innen, mit denen sie spricht, ihre Erlebnisse auch nur ansatzweise nachempfinden kann. Das nicht jesidische Publikum kann das ebenso wenig. Dennoch ist On her Shoulders mehr als  das Porträt einer beeindruckenden jungen Frau*. Murads Kampf für das jesidische Volk ist noch längst nicht abgeschlossen. Fünf Jahre nachdem Daesh die Region um das Sindschar-Gebirge einnahm, sind von den insgesamt mehr als 6.400 verschleppten Mädchen* und Frauen* nur die Hälfte zurückgekehrt. Etwa 300.000 der vertriebenen Jesid_innen harren in Flüchtlingscamps unter furchtbaren Bedingungen aus. Obwohl die Region unter Mithilfe jesidischer Milizen befreit wurde, können sie nicht zurück in ihre Heimat. Für den Wiederaufbau und die Räumung der verbliebenen Mienen bräuchte es mehr internationale Unterstützung. Dennoch sind die Erfolgschancen für einen Asylantrag in Deutschland beispielsweise rückläufig, im vergangenen Jahr wurden nur 55 Prozent der Anträge irakischer Jesid_innen anerkannt.

Das Publikum kann sich nicht entspannt zurücklehnen und den Mut der Protagonistin bewundern. Der Film macht deutlich, dass Murad eigentlich zu viel auf ihren Schultern trägt. Auch wenn in erster Linie politische Entscheidungsträger_innen aufgefordert sind, den Wiederaufbau zu unterstützen und den vertriebenen Jesid_innen Schutz zu bieten, entsteht beim Publikum das hilflose Bedürfnis Nadia Murad  zumindest einen Teil der Last abzunehmen.

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