FID Marseille 36: All roads lead to you (Усі дороги приводять до тебе)

Sich an die Vergangenheit erinnern, ist eine tief in der Gegenwart verankerte Handlung, stellt Jenya Milyukos in ihrem essayistischen, nachdenklichen und bewegenden Film All Roads Lead To You fest. Die Heimat besteht im Exil in Bildern, Objekten, Dokumenten und Gefühlen fort. In ihrem Debütfilm verdeutlicht Milyukos historische und gegenwärtige Zusammenhänge um die Annexion der Krim und Sewastopols auf persönlicher und politisch-analytischer Ebene. Der noch unbesetzte Heimatort ihrer Kindheit im Süden der Ukraine, der im März 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde, besteht seitdem nur mehr als Ort ihrer Sehnsucht fort. Die Einnahme, das Bezeugen der gewaltsamen Umgestaltung von Plätzen, Fassaden und Denkmälern sowie die Trauer und zugleich Hoffnung auf Freiheit von Unterdrückung und politischer Verfolgung drückt Milyukos in einer Verschränkung von Handkameraaufnahmen und Untertiteln aus. Ihre Stimme, die es ihr nach der Besetzung für lange Zeit verschlug, begleitet uns tonlos in Form des Textes durch den Film und schreibt dem Sichtbaren seine Bedeutung zu.

© FIDMarseille

All Roads Lead To You beginnt mit Aufnahmen aus dem Familienarchiv: Im Jahr 1998, als die Filmemacherin noch als Baby in den Armen der Eltern herumgetragen wird. Wir befinden uns in Saosjorsk, in der Oblast Murmansk im Norden Russlands, unweit der norwegischen und finnischen Grenze. So oft habe sie Aufnahmen ihrer Familie aus unterschiedlichen Jahren gesehen, dass sie manchmal nicht mehr wüsste, woran sie sich tatsächlich erinnere und was bloß eine Erinnerung an diese Bilder sei. Doch von diesen ersten zwei Jahren wüsste sie nichts mehr. Jene Bilder, die sie als Kind langweilten, würde sie erst später verstehen. Es sind Aufnahmen von einem großen schwarzen Atom-U-Boot, das die Wasseroberfläche durchschneidet. Der Vater arbeitete auf einem solchen Kriegsgerät, erklären die Untertitel, beendete diese Stelle allerdings nach zwei Jahren, um mit der Familie zurück auf die Krim zu ziehen. Hier erinnert sich die Filmemacherin an Tage am Kiesstrand, an Spiele im Freien, an die Steppe und an die Großmutter. Heute fühlt es sich wie eine Utopie an. Mit 2014 wurde das Vertraute fremd, die Krim zu einer Trophäe Russlands, zum „Mausoleum“, von dem viele Menschen gewaltsam deportiert wurden. Mit ihrer eigenen Flucht verloren jegliche Zukunftspläne an Bedeutung, Ruhelosigkeit trat an ihre Stelle und das, was sich Freiheit nennt, hält nicht, was es zu versprechen mag. Denn wie kann sich das Leben im Exil, geprägt von Verlust, Trauer, Ungewissheit und Sehnsucht, frei anfühlen?

Die Krim war Ende des 18. Jahrhunderts erstmals vom Russischen Reich annektiert worden (mehr dazu hier). Milyukos knüpft daran anschließend an die Herrschaft unter Stalin an, der die Vertreibung von jenen, die als Nicht-Russ*innen kategorisiert wurden sowie von den sogenannten Kulaken anordnete. Auch ihre Familie wurde aufgrund des Besitzes einer Kuh zum wohlhabenden Klassenfeind markiert. Sie berichtet von der Russifizierung der Krim (etwa die Umbenennung von 1444 Ortschaften in den 1940er Jahren) und zieht Parallelen zur Gegenwart. Die Geschwister ihrer 1934 geborenen Großmutter, die als einziges Familienmitglied in den gegenwärtigen Aufnahmen zu sehen ist, fielen der großen, von der sowjetischen Führung ausgelösten Hungersnot, dem Holodomor, zum Opfer (im Jahr 2022 wurde der Holodomor vom Europäischen Parlament als Genozid anerkannt, von Russland bis heute nicht). Die Geschichte der Vertreibung schreibt sich fort. Ruhelos suchen auch die Bilder nach Halt, wenn sie über Fassaden, Strommasten und Straßen gleiten. Als sich Milyukos nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine von der Großmutter verabschiedet, wissen beide, dass sie sich womöglich zum letzten Mal sehen. Eine Rückkehr könnte zu einer Verhaftung führen, wie Milyukos am Beispiel ihrer 25-jährigen Freundin erzählt, die von Georgien aus den kranken Vater auf der Krim besuchte. Wegen Spionage wurde sie zu 20 Jahren Haft verurteilt, ein Jahr hat sie zum Zeitpunkt des Films bereits im Gefängnis verbracht. 

Wer erzählt die Geschichten der Inhaftierten, der Verstorbenen, der Unterdrückten, derjenigen, die zum Opfer der unfassbaren patriarchalen Machtgier werden und geworden sind? Milyukos’ Bilder und Gedanken lassen uns an Erlebnissen und Empfindungen teilhaben, die von außen nur schwer zu fassen sind. All Roads Lead To You  nimmt uns für seine Dauer und auch danach noch mit in eine katastrophale Lage, deren Auswirkungen auf so vielen Ebenen fortwirken. Die Augen davor verschließen können nur diejenigen, die es sich leisten können, während die Mächtigen die historischen Narrative umschreiben. Für Milyukos führen alle Straßen zurück, die Gedanken bleiben auf der Krim. Wenn ihr Kamerazoom sich an Gegenständen und Gebäuden abtastet, wird die Suche nach Halt deutlich. Zugleich scheint das Annähern durch die Linse die physische Distanz aufzuzeigen, die zwischen der Filmenden und den Objekten ihres Blicks fortbesteht. Diese Bilder, nach dem 24. Februar 2022 entstanden, bringen Vergangenes in die Gegenwart und machen zugleich dessen Unerreichbarkeit stets aufs Neue sichtbar. Milyukos fordert trotz allem zum utopischen Denken auf, das sie vom „realistischen“, die gegenwärtigen Zustände akzeptierenden, unterscheidet. Um die Utopie weiterzudenken: All Roads Lead To You sollte von einem großen Publikum gesehen und gehört werden – es ist einer jener Filme, die die (Kino-)Welt heute dringend braucht.

Beim 36. FID Marseille feierte der Film seine Weltpremiere.

Bianca Jasmina Rauch