FFMUC 2019: Vita & Virginia
Es gibt mehr als nur eine Form der Liebe und dementsprechend ist es nur logisch, dass wir auch mehrere Menschen zur gleichen Zeit lieben können. Was so klingt, wie die Ausgangsthese eines zeitgenössischen Polyamorie-Ratgebers ist überraschender Weise die Basis der Liebesgeschichte von Vita & Virginia, genauer gesagt der von Vita Sackville-West und Virginia Woolf, verfilmt von Regisseurin Chanya Button. Die Frage, was Liebe ausmacht, wer wen und vor allem wie viele romantisch lieben darf, ist keine Fragestellung des 21. Jahrhunderts, aber doch heute von so großer Aktualität, dass sie als direkter Brückenschlag zwischen den historischen Figuren und ihrem heutigen Publikum fungiert.
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Im Jahr 1922, also vor fast 100 Jahren, begegnen sich die aus der gehobenen Gesellschaft stammende Autorin populärer Romane Vita Sackville-West (Gemma Arterton) und die Bohemienne und intellektuelle Schriftstellerin Virginia Woolf (Elizabeth Debicki). Die beiden verbindet nicht nur die Liebe zum geschriebenen Wort und der Respekt für die Arbeit der anderen, sondern auch ihr unkonventionelles Eheleben. Während sich Vita und ihr Ehemann* gegenseitige, insbesondere homosexuelle Abenteuer gestatten, solange diese nicht den gesellschaftlichen Status des Paares gefährden, führen Virginia und ihr Gatte Leonard eine asexuelle Ehe, in der Eifersucht keinen Platz haben soll. Diese Beziehungskonstellation schafft für die folgende Annäherung der beiden Frauen* eine interessante Ausgangsbasis: Ihre Affäre ist nicht mit Geheimnissen, nicht mit dem Damoklesschwert der skandalösen Enthüllung verbunden. Und so kann sich das folgende Drama organisch aus den Figuren statt aus konstruierten Eskalationon entwickeln.
Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Die Liebesgeschichte von Vita & Virginia beginnt mit Vitas Faszination für die Kollegin, die sie als intellektuell überlegen und vor allem unnahbar empfindet. Tatsächlich ist Virginia eine verschlossene Person, die, wenn sie sich denn überhaupt einmal zu Wort meldet, stets in wohl komponierten literarischen Sätzen spricht. Diese fehlende, und zuweilen schmerzhafte, Inkongruenz zwischen Wort und Emotion, zwischen Beschreiben und Erleben, ist auch wiederholt Thema beruflicher Gespräche zwischen den beiden Frauen*.
Trotz der starken gegenseitigen Anziehung, die Chanya Button schon im ersten Aufeinandertreffen der zwei Liebenden unmissverständlich inszeniert, dauert es viele Briefwechsel und vermeintlich berufliche Treffen bis sich Vita & Virginia auch körperlich näherkommen. Dabei ist ihre Begegnung von einem Ungleichgewicht der leidenschaftlichen Vita und der bislang weitgehend asexuellen, verkopften und auch psychisch labilen Virginia geprägt. Die Sollbruchstelle dieser Beziehung ist also weder ihr gesellschaftlicher noch der familiäre Kontext, sondern die geschlechterübergreifende Verzwickung von Macht und Begehren. Beiden Frauen* fällt es aus unterschiedlichen Gründen schwer, Nähe und Gefühle zuzulassen. Beständig kämpfen sie mit sich selbst und der anderen, ringen um die Oberhand, stoßen die andere von sich. Sie sind wie Igel, die – sobald sie näher zusammenrücken – einander mit ihren Stacheln wieder verscheuchen.
Und obwohl diese Dynamik so allgemeingültig ist, bleibt Buttons Film doch ein durch und durch queerer. Nicht nur wegen der gleichgeschlechtlichen Liebesgeschichte, sondern auch wegen der mutigen Brüche mit den Regeln des klassischen Bio-Pics. So fügt sich die Filmmusik von Isobel Waller-Bridge nicht nahtlos in die dargestellte Epoche, sondern steht mit ihr in starkem Kontrast: Es sind elektronische Klänge, die hier von Anfang an ein düsteres Licht auf die Ereignisse werfen und die filmische Illusion beständig torpedieren. Kleine fantastische Momente, die Virginias Psychose veranschaulichen, brechen wiederum mit der ansonsten realistischen Abbildung der Epoche.
Die Montage von Mark Trend schließlich ist zu Beginn des Films unerwartet schnell, um nicht zu sagen hektisch, und verweigert uns eine gefällige Exposition, die uns die Figuren mit der gebotenen Ruhe nahebringen könnte. Im Grunde bekommen wir zu Vita & Virginia erst dann langsam einen Zugang, wenn sie sich auch auf der Handlungsebene näherkommen. So wie sich die Frauen* erst Schritt für Schritt, über Höhen und Tiefen hinweg kennenlernen, benötigen auch wir den gesamten Film, um sie wirklich zu begreifen. Und wie sie werden wir dabei getragen von Faszination und Neugier.
Dies ist wohl einer der Gründe, dass der fast zweistündige Film niemals langweilig wird. Vita & Virginia zeigt eindrucksvoll das Potential, das sich in der Abkehr von stereotypen Figuren und Erzählmustern verbirgt: Jenseits des Korsetts klassischer Geschlechterrollen – und das gilt für die abgebildete Realität ebenso wie für den Film selbst – ist plötzlich Raum für eine komplexe Charakterentwicklung, wie wir sie insbesondere von Frauen*figuren im Kino äußerst selten sehen.
Der Film beginnt mit einem Radiointerview Vitas und ihres Ehemannes*, in dem sie darlegt, sich weniger über ihre Rolle als Mutter denn über ihre berufliche Karriere als Autorin zu definieren. Konsequenter Weise spielen denn auch ihre beiden Söhne für die folgende Handlung keinerlei Rolle. Stattdessen ist es das künstlerische Schaffen der beiden Hauptfiguren, das sich motivisch durch den Film zieht. Insbesondere Virginia Woolf beeindruckt dabei durch ihren Intellekt und sprachlichen Ausdruck, fordert damit immer wieder nicht nur Vitas Respekt, sondern auch den unsrigen ein.
Und auch auf dramaturgischer Ebene erweist sich gerade das Verlassen ausgetretener Pfade als wegweisend. Denn auch ganz ohne die klassische Handlung von überromantisierter Liebe und ihren bösen Feinden in Familie und Gesellschaft, von Eifersucht und rachsüchtigen gehörnten Partner_innen erzählt Chunya Button eine Geschichte von sich steigernder Intensität. Und genauso wie die beiden Heldinnen haben auch wir diese Liebe erst dann richtig verstanden, erst dann richtig gefühlt, wenn sie im Grunde schon wieder vorbei ist. Aber selbst dieses Ende kommt ohne Drama aus. Selbst dieses Ende ist wieder Liebe. Nur eben eine andere Form.
Kinostart: 31. Oktober 2019
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