FFMUC 2017: Tigermilch

Was hat es nur mit den „bösen“ Mädchen auf sich? Welch’ unheilvollen Trend haben Charlotte Roche mit Feuchtgebiete und Helene Hegemann mit Axolotl Overkill da nur losgetreten? Woher kommen diese eskalierenden jungen Frauen*, die in ihrer eigenen Revolte baden als wäre sie das Weihwasser der einzig wahren Emanzipation? Und weshalb beschleicht mich dabei immer das Gefühl, dass in ihren Geschichten weniger Empowerment als apologetische Rechtfertigung steckt? Der verzweifelte Versuch ein Frauen*bild zu etablieren, das rülpsen, saufen, kotzen und ficken darf. Ein Versuch, der sich selbst negiert, weil er impliziert, dass solche Frauen* abnorm seien und wir mit aller Radikalität um ihre Akzeptanz kämpfen müssen, womit wir ihre Abnormität allerdings immer und immer wieder aufs Neue betonen und sie infolgedessen immer weiter exkludieren statt inkludieren.

Dabei wirkt der auf einem Roman von Stefanie de Velasco basierende Film Tigermilch von Ute Wieland nicht nur auf Grund seines Titels vielversprechend, der an Jakob Lass’ grandiosen Tiger Girl erinnert. Auch die Story scheint doch erst einmal brauchbar: Zwei Schülerinnen aus dem Westberliner Präkariat – einem Milieu, das wir äußerst selten in Filmen sehen – schwören einander die ewige Freundschaft und nehmen sich für die Sommerferien ihre Defloration vor. Außerdem kämpft die irakisch stämmige Jameelah (Emily Kusche) um ihre Einbürgerung und die Liebe eines sensiblen Schönlings, während Nini (Flora Thiemann) die sozialen Strukturen ihres multikulti Umfelds zu verstehen sucht und ihrerseits die Nähe eines jungen Mannes* genießt. Dabei wird viel geraucht und getrunken. „Tigermilch“ heißt das titelgebende Gebräu der Wahl, eine widerwärtig anmutende Mischung aus Maracuja-Saft, Schulmilch (die gibt’s noch?) und Weinbrand.

© Constantin

Warum das nicht flockt, ist eine der vielen Fragen, die mir während des Screenings durch den Kopf schießen. Da sind noch eine Menge anderer banaler Zweifel, die mich vorübergehend irritieren. Zum Beispiel, ob eins auf Grund einer Weisheitszahn-OP wirklich stationär im Kinderklinikum aufgenommen wird und ob es sich nach einem solchen Eingriff ohne gesundheitliche Folgen gut vögeln lässt. Ob bei der ersten Menstruation ein Tampon so ohne Weiteres im Liegen mit geschlossenen Beinen einzuführen ist. Und wie eine Horde Präkariat-Kids eigentlich auf eine Bonzenparty im Grunewald gelangt.

Aber da sind auch noch andere, etwas tiefergehende Fragen. Warum zum Beispiel müssen Nini und Jameelah bei ihrem jugendlichen Liebeszauberritual eigentlich unbedingt nackt über Wiese und Leinwand springen? Reicht es wirklich, einen seit vielen Jahren verloren gegangenen Vater einmal wieder anzurufen, um eine Beziehung zu etablieren? Gab es für den Part des jungen Mannes* im Rollstuhl eigentlich keinen Darsteller im Rollstuhl? Warum spricht Jameelah, deren Herkunft so überbetont wird, eigentlich kein arabisch?

Und dann all diese inhaltlichen Rätsel, die mir Tigermilch aufgibt. Was steckt denn wirklich hinter dem Ehrenmord, den die Mädchen* beobachten und der sie vorübergehend entzweit? Weshalb will Jameelah keine Zeuginnenaussage machen? Warum stellt sich der kleine Amir (David Ali) schützend vor seinen gewaltbereiten Bruder? Und wie kommt es eigentlich zu der Versöhnung zwischen den beiden Hauptfiguren?

© Constantin

Einerseits gelingt es Tigermilch, uns den eigenen Rassismus und die Arroganz positiver Diskriminierung vor Augen zu führen. Andererseits grast der Film so viele Klischees ab, dass es kaum auszuhalten ist. Da ist die typische „Assi-Familie“ mit der dicken Mutter, die vor dem „Unterschichtenfernsehen“ einschläft, ihr natürlich ebenfalls übergewichtiger Partner und die zwölfjährige Tochter, die sich heimlich am Eierlikör bedient. Weil… ja, weil Präkariatsfamilien einfach so sind?

Da ist die bosnische Familie ohne Vater, mit der Mutter, die kein Wort Deutsch spricht und dem um die eigene Ehre übermäßig besorgten ältesten Sohn sowie der übermäßig aufreizend gestylten Tochter, die sich in einer „Romeo und Julia“-Nebenhandlung ausgerechnet mit einem Serben verlobt.

Und da ist Jameelah, deren Charakter derart gewollt mit dem Stereotyp der jungen Irakerin bricht, dass mir ganz flau im Magen wird. Wenn ihre Lehrerin übermäßig betont, dass das Mädchen ohne deutschen Pass die beste Deutschnote in der Klasse hat, dann soll mich das vermutlich wundern. Tut es aber nicht. Denn warum? Mit derlei Szenen verhält es sich wie mit subtilem Fatshaming, was die außergewöhnliche Schönheit dicker Frauen* betont, mit dem impliziten Adjektiv „außergewöhnlich“ aber gleichzeitig den Zweifel an eben jener Tatsache erlaubt.

Können wir über dicke Frauen* nicht einfach dieselben Geschichten erzählen wie über dünne? Und können wir irakische Mädchen* Spitzenschülerinnen sein lassen, ohne das zu kommentieren?

© Constantin

Auch die Handlung um die geplante Defloration bestärkt einen problematischen Diskurs, anstatt ihn zu dekonstruieren. Sexualität wird auch in Tigermilch als Penetration verstanden. Penetration wiederum als einen durch Männer* ausgeübten Vorgang, der die weibliche* Identität verändert. Der Mann* macht das Mädchen* zur Frau*. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Nini und Jameelah sich zu diesem Schritt – übrigens in einer äußerst verstörenden, unerotischen Szene – sehr bewusst selbst entschließen. Eine ordentliche Portion Wut steigt zudem in Anbetracht der Tatsache in mir hoch, dass die Heldinnen dieser Geschichte über keinerlei echte Sexualität im Sinne von Lust und Begehren verfügen. Da gibt es ebenso wenig einen „weiblichen Blick“, der die Körper der holden Jünglinge sexualisiert, wie irgendeine Form erotischer Ekstase oder doch zumindest Erregung. Steril wird der Geschlechtsverkehr abgeturnt, so dass es im Kinopublikum wohl niemanden wundern wird, dass die Mädchen* daran keinen so rechten Gefallen finden können. Empowerment geht anders.

Am Ende bleibt für mich vor allem eine große Frage stehen: Warum? Was will mir Tigermilch eigentlich erzählen? Am ehesten noch möchte ich dem Film eine Intention unterstellen, die Opposition von Schwarz und Weiß aufzulösen und seinem Publikum die Augen für die Graustufen zu öffnen. Andererseits bleiben diese Versuche auf nahezu unerträgliche Weise im Ansatz stecken, wenn Jameelah ihre „biodeutsche“ Freundin dafür kritisiert, den Ehrenmord nicht nicht im kulturellen Kontext zu verstehen, und uns doch gleichzeitig nichts in die Hand gibt, unsererseits aus den Ereignissen und Handlungen der Figuren einen Sinn zu generieren.

© Constantin

Der Film schaut durch die Augen von Nini, nicht die von Jameelah, Amir oder einer der anderen Figuren mit Migrationsgeschichte. Diese bleiben „die Anderen“, die „absonderliche“ Dinge tun und denken. Der oberlehrerinnenhafte Zeigefinger fordert uns dazu auf, dafür doch bitte jetzt Verständnis aufzubringen, ohne uns jedoch eine Hilfestellung anzubieten. Infolgedessen wächst der Frust mit jeder Filmminute ebenso wie Antipathien gegenüber die nicht zu ergründenden Figuren. Es stellt sich die Vermutung ein, dass hier etwas fehlt. Dass hier eine ganze Menge fehlt. Nämlich wahrhaftiges und von Liebe getragenes Interesse für die eigenen Figuren.

Ob dies ein Problem der Adaption oder bereits der Vorlage ist, kann ich leider nicht beurteilen. Aber die im Presseheft zitierte Stellungnahme der Autorin zu ihrem Thema spricht Bände: „Ich habe lange in Neukölln gewohnt und im Bekanntenkreis mitbekommen, mit welchen Dingen man sich da herumschlagen muss. Das ist etwas anderes als bei Mädchen, die in Zehlendorf Blockflöte lernen und den Rest des Tages an ihrer WhatsApp hängen.“

Und um noch einmal zu den „bösen“ Mädchen* zurückzukommen: Mädchen* sind manchmal gut und manchmal böse, junge Irakerinnen manchmal klug und manchmal ungebildet, Bosnier_innen manchmal konservativ und manchmal liberal, prekäre deutsche Familien manchmal dysfunktional und manchmal liebevoll. Mädchen* aus Zehlendorf manchmal verwöhnt und sozial ignorant und manchmal feministische Filmaktivistinnen. Menschen können alles sein, egal welche soziokulturellen Labels sie tragen. Und genau das sollte die Botschaft eines Jugendfilms sein.

Kinostart: 17. August 2017

Sophie Charlotte Rieger
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