FFHH 2024: The Assessment

Es ist überraschend, wie viele filmische Dystopien sich dem Thema Reproduktion widmen – so wenig Bedeutung Kindern, Gebärenden und Sorgenden in unserer Gesellschaft zugemessen wird, so interessant scheint deren Rolle doch für die Zukunft zu sein… Children of Men ist das vielleicht bekannteste Beispiel für ein solches Science-Fiction-Szenario. Weniger dystopisch als romantisch, aber dennoch mit einer futuristischen Vision von Reproduktionsarbeit beschäftigt, war im letzten Jahr The Pod Generation/Baby to Go. Fleur Fortunés The Assessment ist wie eine Kreuzung dieser beiden Filme, verbindet eine dystopische Zukunftsvision mit der Frage nach Reproduktion und Elternschaft, ihren Voraussetzungen und Konsequenzen.

Botanikerin Mia (Elizabeth Olsen) und Programmierer Aaryan (Himesh Patel) wollen ein Kind. Zum Glück gehören sie zu den etwa 1% der Bevölkerung, die grundsätzlich für biologische Fortpflanzung infrage kommen, auch wenn Schwangerschaften Teil der düsteren Vergangenheit sind und Babys inzwischen in künstlichen Uteri heranwachsen. Doch bevor dies geschehen kann, müssen sich Mia und Aaryan trotz augenscheinlich stabiler Liebesbeziehung und optimaler Wohnverhältnisse einer akribischen Beurteilung ihrer Elternkompetenzen unterziehen. Zu diesem Zwecke zieht die von der Regierung beauftragte Gutachterin Virginia (Alicia Vikander) bei ihnen ein, die nicht nur Befragungen und Beobachtungen durchführt, sondern überraschend auch selbst in die Rolle eines Kindes schlüpft, um die zukünftigen Eltern auf die Probe zu stellen. 

© Capelight

Fleur Fortuna entwirft ein Zukunftsszenario, in dem ein kleiner Teil der Menschheit mit Hilfe moderner Medizin unsterblich geworden ist und daher zur Schonung der knappen Ressourcen Reproduktion auf ein Minimum reduziert hat. Doch womit die Planer*innen dieser Dystopie nicht gerechnet haben, ist das menschliche Bedürfnis nach elterlicher Fürsorge, das jeder Ressourcenlogik trotzt. Damit knüpft die Regisseurin an reproduktionskritische Diskurse unserer Gegenwart an, in denen das Gebären von Kindern mit einem Beitrag zur Klimakatastrophe gleichgesetzt wird. Überhaupt ist The Assessment insofern gelungene Science Fiction, als dass der Film ein vermeintlich weit von uns entrücktes Zukunftsszenario nutzt, um ganz reale gesellschaftliche Probleme zu verhandeln. Wer darf sich fortpflanzen und warum? Wie weit darf sich der Staat darin einmischen? Was sind eigentlich gute Eltern? Und haben wir nicht auch ein Recht darauf, “schlechte” Eltern zu sein? Auch Virginias Performance als trotziger „Threeager“ verursacht vielen von uns bekannte Probleme, treibt die Eltern auf dem Prüfstand an die Grenze ihrer Geduld und Integrität und entwickelt sich sehr realistisch auch zum Belastungstest der Liebesbeziehung zwischen Mia und Aaryan. Wie weit sind sie bereit, für ihren Traum vom Kind zu gehen?

Dabei bietet Fleur Fortune weder den Eltern noch dem Publikum zufriedenstellende Antworten auf ihre Fragen. Und will es auch gar nicht. The Assessment will uns nicht belehren, sondern zum Denken, zum Fragen einladen, uns herausfordern und mit der bitteren Wahrheit konfrontieren, dass das Überleben der Menschheit eben auch an die Reduktion von Ressourcen geknüpft ist. Was ist dir lieber: Ein Leben in ewiger Gesundheit und Jugend ohne Kinder oder ein Leben in einer sterbenden Welt, in die du eigene Nachkommen gebären kannst? 

In diesem, ihrem ersten Spielfilm erschafft Fleur Fortune nicht nur eine inhaltlich kluge Dystopie, sondern überzeugt auch mit der visuellen Ausgestaltung ihres Szenarios. Die Handlung konzentriert sich auf das einsam am Meer gelegene Haus von Mia und Aaryan sowie die Natur in dessen direktem Umfeld und so kann sich Fortune ganz auf das visuelle Konzept dieses begrenzten Spielorts konzentrieren. Das zahlt sich ebenso aus wie der Verzicht auf eine umfassende Einordnung des porträtierten Mikrokosmos. Auf der Dialogebene vermittelt Fortune ihrem Publikum alle Informationen, die es zum Verständnis der Handlung und deren Bedeutungsebenen benötigt. Aber mehr auch nicht. Mutig und zu Recht verlässt sich die Regisseurin darauf, dass nicht alles einer Erklärung bedarf und das Publikum bereit und in der Lage ist, ihrer insgesamt kohärenten Zukunftsvision auch ohne detaillierte Herleitung zu folgen.

Dass The Assessment eine feministische Grundhaltung besitzt, beweist die wiederholte Bedeutung von Eltern-, insbesondere aber Mutterschaft für die Gesellschaft an sich. Sehr subtil wertet Fleur Fortune damit Sorgearbeit auf – und zwar nicht auf einer ökonomisch verwertbaren Ebenen („Meine Kinder zahlen deine Rente“), sondern auf einer ideellen. Wie sähe eine Gesellschaft aus, in der es keine Eltern-, keine Mutterliebe mehr gäbe? Und würden wir darin leben wollen?

In Anbetracht dieser feministischen Haltung überrascht der Rückgriff auf heteronormative Motive wie die weibliche Konnotation von Natur im Gegensatz zur männlich konnotierten Kultur bzw. Technik durch Mias und Aaryans respektive Berufe. Oder das Bild des Mannes als sexuell leicht zu korrumpierbarer Person. Vielleicht aber will uns Fleur Fortune damit aber auch nur ihren pessimistischen Ausblick auf die Zukunft vor Augen führen, dass in einer grundsätzlich durch Macht strukturierten Gesellschaft auch patriarchale Geschlechterbilder und -rollen erhalten bleiben werden. Das Besondere an The Assessment ist neben den Schauwerten des Set Designs, dem durchdachten World Building und der wenn auch zum Teil absurd wirkenden, so doch immer glaubwürdigen Handlung die emotionale Ebene, die uns dieser Dystopie eben nicht nur gedanklich, sondern auch auf der Gefühlsebene näher bringt. Weil es bei der Frage nach Leben eben nicht nur um Logik geht, nicht nur um funktionierende Gleichungen und rationale Entscheidungen. Sondern auch und vor allem um die Liebe.

Kinostart: 3. April 2025

Sophie Charlotte Rieger
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