FFHH 2015: Songs My Brothers Taught Me
Vor beeindruckenden Panoramaaufnahmen der nordamerikanischen Steppe in all ihrer Trostlosigkeit suchen junge Native Americans ihren Platz in einer zum Scheitern verurteilten Gesellschaft. Die Erwachsenen sind entweder Alkoholiker_innen oder im Gefängnis oder auch beides, so dass die Kinder und Jugendlichen meist auf sich allein gestellt sind. Das Fehlen von Vorbildern drückt sich auch in den Berufswünschen der nachwachsenden Generation aus: „Rodeoreiter“ steht auf der Zukunftswunschliste ganz oben.
Aurelia (Taysha Fuller) aber hat andere Pläne. Sie wird in L.A. studieren. Ihr Freund Johnny (John Reddy) will sie begleiten. Um Geld für die Reise zu sparen, verkauft der Teenager illegal Alkohol, macht sich damit aber auch gefährliche Feinde. Währenddessen verliert seine kleine Schwester Jashaun (Jashaun St. John) durch den anstehenden Abschied ihres Bruders ihren Anker. Der Vater hat nach seinem Tod 25 Kinder von neun verschiedenen Frauen zurückgelassen und auch ihre Mutter ist keine große Hilfe, lenken sie doch der Alkohol und wechselnde Männerbekanntschaften von ihrer Verantwortung den Kindern gegenüber ab. Selbst der Künstler Travis (Travis Lone Hill), dem Jashaun sich vorübergehend anschließt, verschwindet bald von der Bildfläche.
All dies ist derart überzeugend gespielt und mit einer Handkamera derart dokumentarisch gefilmt, dass ich lange Zeit zweifelte, um welche Art Film es sich hier handelte. Eins stand fest: Songs My Brothers Taught Me war entweder eine extrem gut erzählte Dokumentation oder ein berauschend authentischer Spielfilm.
Tatsächlich ist letzteres der Fall. Debutregisseurin Chloé Zhao arbeitet größtenteils mit Laiendarstellern, die im Pine Ridge Reservat, in dem die Geschichte spielt, zu Hause sind. In dem sie die meisten Szenen erst am Morgen des jeweiligen Drehtags schrieb, konnte Zhao Lebensereignisse ihrer Darsteller_innen in die Filmhandlung mit einbinden. Auf diese Weise entsteht trotz der fiktionalen Handlung ein atemberaubend lebensnahes Bild des Lebens im Reservat, bei dem wir uns als Zuschauer_innen ständig bewusst in Erinnerung rufen muss, dass es sich nicht um einen Dokumentarfilm handelt.
Es liegt aber nicht nur am Wahrheitsgehalt der Geschichte, dass Songs My Brothers Taught Me große Authentizität entwickelt. Es sind auch die Regie und das Buch von Chloé Zhao, die mehr Interesse am realen Leben als an seiner Dramatisierung haben. Hier wirkt nichts künstlich. Nicht einmal die Sexszene zwischen Johnny und Aurelia, in der – ich vermute, in dieser Form im Spielfilm einzigartig – auf völlig selbstverständliche Art und Weise Menstruationsblut eingebunden wird.
Noch nie in meinem Leben habe ich einen Spielfilm gesehen, den ich nicht als Fiktion wahrnehmen konnte. Doch Songs My Brothers Told Me wirkt nie wie eine Erzählung, eine erfundene Geschichte über ein paar Native Americans, sondern wie eine Abbildung, ein direkter Blick in ihre Lebensrealität. Wenn ich Songs My Brothers Told Me mit dem Dokumentarfilm Pine Ridge von Anna Eborn vergleiche, kann ich wahrlich nicht behaupten, der eine wirke viel „echter“ als der andere. In gewisser Weise fordert Chloé Zhao mit ihrem Film das Publikum heraus, seine Kategorien von Dokumentar- und Spielfilm zu hinterfragen. Zugleich präsentiert sie mit ihrem Werk eine andere Art des filmischen Erzählens, die sich eben nicht einordnen lässt und gerade daraus ihre Kraft schöpft.
An der einen oder anderen Stelle erliegt Zhao leider der Versuchung, sich traditioneller Plotelemente zu bedienen. Das gravierendste Beispiel hierfür ist Johnnys bedauerlich absehbares Scheitern am illegalen Alkoholhandel. Vielleicht aber brauchen wir diese Momente auch, um uns die Fiktionalität des Gesehenen wieder bewusst machen zu können.
Der Spielfilm hat gegenüber dem Dokumentarfilm den Vorteil, dass er Hoffnung säen kann, wo keine ist. Pine Ridge ist ein immens pessimistisches Werk, das seinen Protagonisten wenig Chance auf ein besseres Leben einräumt. Songs My Brothers Told Me hingegen gelingt es, mit Aurelias Aufbruch eine Perspektive aufzuzeigen. Das Ende ist versöhnlich, ohne jede Spur von Kitsch. Die Niederlage ihres Helden verwandelt sie in einen Gewinn: Johnny hat seine Heimat gefunden. Was auch immer das für ihn und seine Zukunft bedeuten mag.
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