Drei Gedanken zu: May December
Bereits im Dezember in den USA und in Kanada auf Netflix erschienen, fluteten Diskussionen um Todd Haynes‘ May December schnell diverse Foren, Blogs und Magazine. Zuschauende fragten, was sie bloß mit der Handlung anfangen sollen, kritisierten die Marketingstrategie von Netflix oder warfen einen moralischen Anker inmitten der diskutierten Ambivalenzen aus. Für das Drehbuch ließ sich Samy Burch, die damit ihr Langfilmdebüt hinlegte, von einem realen Fall inspirieren, der sich während der 1990er in den USA ereignete. Die damals 34-jährige Lehrerin Mary Kay Letourneau wurde wegen sexuellen Missbrauchs an ihrem 12-jährigen Schüler verurteilt, bekam im Gefängnis ihr gemeinsames Kind und heiratete ihn nach ihrer Entlassung. Die mediale Präsenz war enorm. Die Geschichte von May December setzt in etwa zwanzig Jahre später an und kreiert eine zweite Erzählebene: Elisabeth (Natalie Portman), die Darstellerin einer geplanten Verfilmung des zurückliegenden Falls besucht das Paar Gracie und Joe (Julianne Moore und Charles Melton) einige Wochen vor dem Drehstart, um sich auf ihre Rolle vorzubereiten.
Die eine Repräsentation einer Geschichte
Als Elisabeth am Grundstück der Atherton-Yoos ankommt, wird sie von der mittlerweile dreifachen Mutter Gracie mit offenen Armen empfangen. Eine Erklärung, inwiefern die Zusammenarbeit für den Film, der sich ihrer realen Lebensgeschichte bedient, einer rechtlichen Abmachung unterliegt, liefert May December nicht. Deutlich wird aber die Hoffnung des Paares, dass das Publikum ihre Beziehung, ihre Liebe versteht und sie aus dem moralischen Schussfeuer von damals in eine Happy-End-Schublade befördert werden. Dass es allerdings Schauspielerin Elisabeth gar nicht um ein Glattbügeln des Images dieser Familie geht, erfahren wir spätestens, als sie erzählt, welche Rollen für sie den größten Reiz versprühen: Es sind die mit den moralischen Grauzonen. Dementsprechend tingelt mit ihrer Suche auch die Geschichte in all ihren Ebenen ständig um die Frage: War es Liebe oder Missbrauch? Just wenn Elisabeth sich einem Urteil genähert zu haben scheint, stützt das gebaute Moralhäuschen auch schon wieder ein. Einen Wink zu ihrer eigenen Positionierung bekommen auch die Zuschauenden von May December nicht eindeutig vorgelegt.
Als Elisabeth sich immer stärker in die Familie integriert, beginnen die Spannungen zwischen den Mitgliedern zu steigen und die Fremdaneignung ihrer Geschichte scheint bereits mehr negative als positive Folgen für diese zu haben. Die so enstehende Meta-Ebene macht ein weiteres Fragefass auf: wo beginnen und enden die Grenzen für die Weiterverarbeitung von Biografien, die Teil des öffentlichen Interesses sind und waren, egal ob wir die Personen und ihr Handeln als verwerflich einstufen oder nicht? Unzählige Filme und Serien schwimmen in diesem Fass, das für die Betroffenen selbst schneller überläuft. Mary Kay Letourneau verstarb im Jahr 2020, ihr 2019 geschiedener Partner Joe Fualaau äußerte seine Enttäuschung darüber, für die Erarbeitung von May December nicht kontaktiert worden zu sein und viel mehr eine weitere Aneignung seiner schmerzvollen Lebensgeschichte mitangesehen haben zu müssen. Indirekt als moralische Grauzone deklariert, hängt die Erzähllust der Filmschaffenden primär an einer Faszination des Schwer-Versteh- und Greifbaren als an einer tatsächlichen Durchdringung realer Ereignisse, wie jener von Letourneau und Fualaau.
Kann es Liebe sein?
Wo die Liebe hinfällt. Die Liebe. Der Ausdruck „May December“ bezeichnet eine romantische Beziehung zwischen zwei Menschen mit erheblichem Altersunterschied. Auch wenn heterosexuelle Verhältnisse, in denen ein älterer Mann mit einer jüngeren Frau zusammen ist, in unseren kulturellen (und realen) Welt überwiegen – Lolita, Leon, der Prof, Baby Doll oder Pretty Baby sind nur einige Beispiele – lässt sich auch andersherum von keinem Novum sprechen: The Graduate, Sunset Boulevard, L’Été derniere. Seltener jedoch sind dabei die jüngeren Männer in einem Alter, das unter der gesetzlichen Grenze für den erlaubten Sex mit einer volljährigen Person liegt. Gracie erklärt, dass ihre Beziehung aus Liebe entstanden sei. Da „die Liebe“ in unserer Gesellschaft pausenlos zu einer mysteriösen, alles-überwindende Kraft stilisiert wird, kann diese Begründung in ihrem Umfeld und in den Medien bis zu einem gewissen Grad standhalten. Ist Elisabeth nun also Romantikerin oder doch Strategin? Julianne Moores Rolle hält sich die meiste Zeit die Schwebe zwischen einer auf der einen Seite naiven, andererseits berechnenden Frau. Als sie Elisabeth nach einem Familienstreit – Ausgangspunkt war ihr Bodyshaming gegenüber den Töchtern – erzählt, sie hatte sich gewünscht, dass der Tag perfekt werde, entgegnet Elisabeth, dass diese Vorstellung naiv sei, woraufhin Gracie entschlossen erwidert, sie sei eben naiv und sei es immer gewesen. Nachdem hingegen Joe eines Abends hinterfragt, inwiefern er als 13-jähriger überhaupt entscheidungsfähig gewesen sein kann, spricht Elisabeth ihm wie ein Mantra vor, dass er sie verführt und die Situation verantwortet habe. Elisabeth hält die Rolle der perfekten, naiven Frau gekonnt als Fassade aufrecht, um ihre tatsächliche Entschlossenheit und ihr Manipulationspotenzial zu kaschieren, lässt diese Szene vermuten. Insofern scheint sich doch der Ansatz durchzusetzen, sie habe Joe als 13-Jährigen manipuliert. Das Stichwort Grooming lodert auf.
Das enttäuschende Melodrama
Gleich zu Beginn im Vorspann verweist May December auf das Genre, mit dem Todd Haynes bereits in der Vergangenheit gern gespielt hat: das Melodrama. Zu sehen: Von einem Filter getrübte, in wenigen Farben gehaltene Bilder mit einer mysteriösen Musik. Schmetterlinge auf Blättern. Darüber eine durchsichtige Schrift, deren weiße Konturen an Vorstadtgartenzäune derselben Farbe erinnern. Die Filme eines Douglas Sirk inspirierten nicht nur Haynes, auch Rainer Werner Fassbinder oder Pedro Almodóvar griffen stilistisch immer wieder darauf zurück. Im Zentrum ihrer Geschichten stehen meist FLINTA-Personen und ihre familiären und romantischen Beziehungen. Fassaden bergen die Geheimnisse der Innenräume, die die dominierende Moral ihrer Gesellschaft auf den Prüfstand stellen. In May December versuchen die Atherton-Yoos trotz längst eingebrochener Fassaden, Deckenträger und Grundfeste, ihr Leben in der Nähe von Savannah, Georgia, in idyllischer Ruhe – Garten und Haus lassen Rückzug zu – weiterzuführen. Das eigentliche Drama liegt hier in der Vergangenheit. Gracie beliefert eine Handvoll von ihr treu gebliebenen Personen regelmäßig mit Backwaren, ein Geschäft, das sie mit sichtbarer Freude und Outfits, die ihre Idee von Perfektion aufzugreifen scheinen, betreibt. Zum Ausgleich geht sie auf die Jagd. Der sanftmütigere Joe widmet sich neben seinem Job im Krankenhaus hingegen der Rettung einer seltenen Schmetterlingsart. Die gefundenen Raupen bewahrt er in einer durchlässigen Stoffbox auf und lässt sie frei, wenn ihre Zeit zum Ausfliegen gekommen ist. Zwar mögen die Hobbies des Paares einen Hinweis auf ihre Persönlichkeitstypen geben, dramaturgisch werden wir jedoch enttäuscht, wenn wir davon größere Symbolismen oder Plot Points erwarten. Dasselbe macht auch Haynes mit dem Genre des Melodramas, denn dessen Höhepunkt liegt, gemeinsam mit seiner Leidenschaft, in der Vergangenheit begraben, die Erde muss erst gelockert werden. Ein besonders interessanter Kniff oder Blick auf das Genre und seine Figuren gelingt Haynes nach einem Vorspann, der eine mysteriös-originelle Neuinterpretation erhoffen lässt, damit aber nicht unbedingt – der Film lässt also deutlich “Raum für den Wunsch nach mehr”, wie Giancarlo bereits anlässlich der Cannes Premiere 2023 schrieb – und ich stimme zu.
Ab 30. Mai 2024 im Kino.
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